Ingenhoven bricht für seinen Tiefbahnhof eine Lanze vor der Volksabstimmung.

Stuttgart - Der Tiefbahnhof von Stuttgart21 soll nach seinen Plänen gebaut werden. Im Gespräch sagt der 51-jährige Architekt Christoph Ingenhoven, warum er die Volksabstimmung skeptisch sieht, was er von den Grünen hält und welchen Stellenwert das Publikum für ihn hat.

Herr Ingenhoven, was halten Sie von der Volksabstimmung zu Stuttgart 21?
Als Bürger, der nicht selbst abstimmen darf, weil er außerhalb von Baden-Württemberg lebt, kann ich nur Fragen stellen.

Zum Beispiel?
Ich frage ich mich, ob die Abstimmung einer gerichtlichen Überprüfung ihrer Verfassungskonformität standhalten würde. Ich frage mich, welchen Sinn es macht, jetzt ein weiteres Mal auf die Suche nach einer Mehrheit zu gehen - wo es doch seit der Landtagswahl im März 2011 eine klare Mehrheit im Parlament von CDU, SPD und FDP für das Projekt gibt, die eine Mehrheit der Bürger repräsentiert. Ich frage mich auch, was passieren soll, wenn sich eine Mehrheit in der Abstimmung gegen das Projekt ausspricht, das Quorum von 33 Prozent der Wahlberechtigten aber nicht erreicht wird.

Sie haben ein ungutes Gefühl?
Ich habe ein gutes Gefühl, was die Abstimmung angeht. Ich gehe davon aus, dass Stuttgart 21 bestätigt wird. Ich bin kein Opportunist, der gegen die Abstimmung ist, nur weil er befürchtet, seine Position könnte verlieren. Meine Überlegung ist eher grundsätzlicher Natur: Warum sollte eine Demokratie bessere Ergebnisse hervorbringen, nur weil der Bürger häufiger zur Abstimmung gebeten wird? Ist der Bürger tatsächlich immer vernünftiger, klüger und gerechter als die Politiker, die er wählt?

Die Volksabstimmung soll den Schlusspunkt setzen im Streit um S21. Hat sich Ihr Entwurf durch den jahrelangen Streit abgenutzt? Oder geht er am Ende gestärkt aus dem Streit hervor?
Bis vor kurzem hätte ich gesagt, dass ein demokratisch zustande gekommenes Projekt wie S21 nicht dadurch beschädigt werden kann, dass es diskutiert wird. Solange die Kritik fachlich und konstruktiv ausfällt, wie das meiner Einschätzung nach bis zur Schlichtung der Fall war - ein Umstand, der sich mit dem finalen Schlichterspruch von Herrn Geißler leider erledigt hatte -, kann ein Projekt auch besser werden. Wenn die Kritik ins Unsachliche abgleitet, hat sie dagegen nichts Konstruktives mehr. Dann drohen Abnutzungserscheinungen. Ich habe im letzten Jahr öfter den Eindruck gewonnen, dass es nicht mehr um die argumentative Auseinandersetzung geht, sondern darum, Schaden am Gesamtprojekt anzurichten.

Gilt das auch für die Volksabstimmung?
Auch die Volksabstimmung hat leider ihre lähmenden Effekte.

Wie meinen Sie das?
Die Motivation für Menschen, sich für eine Sache einzusetzen, hängt meist stark davon ab, wie sehr ihr Einsatz öffentlich wahrgenommen und gutgeheißen wird. Ohne positive Rückmeldung fällt es schwerer, sich zu engagieren. Das erleben wir auch bei S21: Ich glaube nämlich, dass die Mehrheit der Bürger Baden-Württembergs das Projekt gut findet, dass aber eine laut- und meinungsstarke Minderheit im Chor mit den Grünen die öffentliche Meinung dominieren. Das erzeugt einen lähmenden Effekt für die Befürworter des Projekts.

Warum hat der Tiefbahnhof den Streit nicht entschärft? Warum kommt die Botschaft der Deutschen Bahn vom tollen, modernen und ökologisch sinnvollen Projekt nicht rüber?
Falls es ausschließlich um Argumente für oder gegen das Projekt ginge, würde sich unser Bahnhof immer durchsetzen, da bin ich mir sicher. Doch was wollen Sie machen, wenn eine Partei wie die Grünen den Kampf gegen das Projekt auch und vor allem dazu nutzt, in Baden-Württemberg an die Macht zu kommen? Und wie erreichen Sie Menschen, die nicht mehr an Zukunftsinvestitionen und Fortschritt interessiert sind? Die das Gestern beschwören und eine latente Zukunftsangst pflegen? Die Bauen mit Lärm und Dreck verbinden und nicht mit Gestalten? Wie wollen Sie Menschen überzeugen, die den wachsenden Wohlstand in der Bundesrepublik offenbar als etwas Gottgegebenes betrachten und denen womöglich die Weitsicht und der Wille abhandengekommen sind, dass wir für zukünftige Generationen eine passende Infrastruktur errichten?

Das klingt so, als hätte Sie der zähe Streit mürbe gemacht?
Manches hat mich ein wenig deprimiert, das gebe ich zu. Aber ich sehe ja auch die anderen Menschen, die sich für die Zukunft einsetzen, die am Fortschritt teilhaben und mitgestalten wollen. Nur haben diese Leute oftmals andere Prioritäten, als tagaus, tagein für S21 zu demonstrieren. Sie melden sich nicht ständig zu Wort. Aber sie sind da.

"Wir müssen für Stuttgart 21 begeistern"

Falls Sie bauen, bauen Sie aber nicht nur für eine, sondern für beide Fraktionen...
Darum ist es auch so wichtig, dass wir nach der Abstimmung am Ball bleiben: Wir müssen uns alle wieder mehr ins Zeug legen, um erneut für S21 zu begeistern. Die Volksabstimmung ist kein Schlusspunkt, wie Sie vorher sagten, sondern ein Ausgangspunkt: Jetzt geht es richtig los. Die Menschen werden noch viel mehr wissen wollen, was da entsteht. Wir hatten hier im Büro mal an ein 1:1-Modell eines Bahnhofs-Lichtauges gedacht oder an begehbare 500 Quadratmeter Bahnhof in Originalgröße...

Wenn Sie ein Segment des Bahnhofs heute in Originalgröße in Stuttgart zeigen würden, müssen Sie sich einiges anhören: Die Kritiker sagen, Ihr Bahnhof sei zu eng, ohne Möglichkeit der Erweiterung, eine Zumutung für mobilitätseingeschränkte Menschen, eine Feuerfalle, mit gefährlichen Schieflagen, und, und, und.
Die Kritik geht ins Leere. Der Bahnhof entspricht den Belangen von Reisenden im Rollstuhl, mit Kinderwagen oder sperrigen Gepäckstücken, da muss sich keiner Sorgen machen. Das Thema Brandschutz ist nochmals bearbeitet worden, weil sich gesetzliche Vorschriften geändert haben. Das neue Brandschutzkonzept ist nahezu fertig; es ist sogar noch ein bisschen besser als das alte. Von Feuerfalle kann keine Rede sein.

Die Schräge...
...ist bekanntlich bedingt und konstruktiv unvermeidbar durch die Lage des S-Bahn-Tunnels und der Stadtbahn. Wir haben aber nochmals mehr Sicherheit eingebaut, indem die Bahnsteige jetzt nicht um 1,5, sondern um zwei Prozent quer geneigt sind. Falls da etwas rollt, rollt es nach innen in Sicherheit. Das ist im Übrigen so ein Aspekt, den die Schlichtung positiv mit aufgeworfen hat.

Die Grünen in der Landesregierung warnen wörtlich davor: S21 ist "zum Schaden des Landes und der Bürger". Trifft Sie das?
Das ist eine Aussage an der Grenze zur Absurdität, damit muss ich mich nicht belasten. Es wundert mich, dass für Stimmungsmache Steuergelder aufgewendet werden.

Was halten Sie vom Grünen-Verkehrsminister Winfried Hermann?
Ich halte ihn für unbelehrbar. Dieser Minister agiert in meinen Augen, was S21 angeht, mitunter radikal. Etwas anderes fällt mir dazu nicht ein.

Würden Sie sich mal mit Ministerpräsident Winfried Kretschmann streiten wollen?
Wenn das geht und nötig sein sollte, warum nicht. Ich nehme an, ohne seine Partei ist Herr Kretschmann ein ganz vernünftiger Mensch. Die Grünen in Baden-Württemberg sind in der jetzigen Phase des Konflikts doch getrieben: Sie müssen, um den Eindruck der Umkehrbarkeit von S21 zu demonstrieren und für das eigene Klientel glaubwürdig zu bleiben, die Position der äußersten Gegnerschaft einnehmen. Ich erwarte, dass sich das nach der Abstimmung legt. Es muss - ein positives Ergebnis für S21 unterstellt - eine Phase der Wiederannäherung an das Projekt geben. Wer nicht völlig abgemeldet sein will, muss dann seinen Teil zu S21 beitragen. Ich hoffe, dass die Grünen diese intellektuelle Kehrtwende hinbekommen. Herrn Kretschmann traue ich es zu. Bei Herrn Hermann oder dem Tübinger OB Boris Palmer bin ich skeptisch.

Knackpunkt von S21 waren, sind und bleiben die Kosten. In den nächsten Wochen will die Bahn die millionenschweren Aufträge für den Rohbau des Tiefbahnhofs und die Tunnel nach Feuerbach vergeben. Spüren Sie auch den Spardruck, unter dem die Bahn steht?
Der Effekt kommt bei mir an, das gehört zu meiner Arbeit. Aber es gibt, Stand heute, keine aggressive Diskussion mit der Bahn über die Kosten des Tiefbahnhofs. Im Vergleich zu den kalkulierten Gesamtkosten von S21 von derzeit 4,1 Milliarden Euro reden wir beim Bahnhof auch von eher geringeren Summen.

Sie reden von 200 Millionen Euro für den Bahnhof, ohne Eisenbahntechnik.
Die Summe haben Sie genannt, nicht ich. Entscheidend ist, dass rund 90 Prozent der Kosten des Bahnhofs funktional festgelegt sind. Wir bauen solide, das muss für Jahrzehnte halten. Rolltreppen oder Bodenbeläge, die das mitmachen, haben ihren Preis. Ohne, dass ich sie vergolde. Von den Bahnhofskosten kann ich als Architekt vielleicht zehn Prozent beeinflussen, mehr nicht.

"An erster Stelle muss Wohnen stehen"

Vor kurzem ist das erste öffentliche Gebäude auf dem S-21-Areal eröffnet worden. Was halten Sie von der neuen Bibliothek?
Zu einer echten Besichtigung hatte ich noch keine Gelegenheit. Ich kann mich aber noch gut an die abschätzigen Kommentare erinnern, als die Bibliothek noch im Bau war. Bücherknast war da noch ein nettes Wort. Jetzt, wo alles fertig ist und genutzt wird, sind offenbar fast alle hellauf begeistert. Das ist erstaunlich, oder? Für das Gebäude und den Architekten Yi freut mich der Stimmungswandel natürlich. Die Nörgler und Spötter, die vorher alles besser wussten, sollten sich aber Gedanken machen, ob sie sich korrekt verhalten haben.

Das Baufeld A1 an der Heilbronner Straße gilt vielen Bürgern aber als Beleg dafür, dass aus dem Projekt S21 nicht Gutes entsteht.
Für die alte Südwest-LB, die nicht Teil der S-21-Bebauung ist, würde ich die Kritik gelten lassen. Sie dürfen mir glauben: Das ist nicht mein Lieblingsgebäude. Aber die LBBW-Bauten dahinter sind sicher keine schlechten Häuser. Inzwischen werden auf A1 erste Wohnungen gebaut, auch das öffentliche Leben mit Geschäften, Cafés, Restaurants wird Fuß fassen. Statt über A1 zu jammern, sollte man sich auf die Dinge konzentrieren, die noch zu verändern sind.

Und das wäre?
Für mich ist das in erster Linie A2, also das Gebiet, wo heute noch die Gleisanlagen des Kopfbahnhofs liegen. Wie schaffe ich es, dass dort vor allem gewohnt und gelebt und nicht bloß gearbeitet wird? Da sehe ich bisher gar nichts, keine Utopie, keine Idee, keinen Vorschlag. Warum melden sich hier nicht all die Leute zu Wort, denen das Wohl ihrer Stadt angeblich so am Herzen liegt?

Sie haben mal laut über eine Philharmonie beim Bahnhof nachgedacht. Gilt das noch?
Da könnte eine Philharmonie entstehen, aber auch ein Museum, ein Rathaus oder ein anderes, öffentliches Gebäude. Das sollte sich aus den Bedürfnissen und Wünschen der Stadt entwickeln. Doch es wäre nur ein Schaustück zur alten City hin. An erster Stelle muss Wohnen stehen! Wohnen muss für A2 der bestimmende Charakter sein.

Weil mit dem Gebiet A2 auch der Erfolg Ihres Projekts steht und fällt?
Absolut. Das ist kein Bahnhof alter Prägung, keine monumentale Halle für die Eisenbahn. Der nächste Stuttgarter Bahnhof steht für eine neue Mitte in der Innenstadt und eine eigene Kategorie des Bauens: Von oben betrachtet sieht es nicht aus wie ein Bahnhof, sondern wie eine Mischung aus Park, Freizeitfläche und Ingenieurbauwerk. Das wird auch Irritationen auslösen; eine friedliche Verunsicherung, die neugierig macht.

Für den Konzern Google bauen Sie in Kalifornien ein Hauptquartier für die Technologie des 21. Jahrhunderts, das Internet. In Stuttgart bauen Sie für eine Technologie des 19. Jahrhunderts, die Eisenbahn. Gibt es Gemeinsamkeiten?
Wir haben immer versucht, die Grenzen eines Gebäudetypus auszuloten und, wo möglich, neu zu definieren. Das ist das verbindende Credo. Beim Stuttgarter Projekt habe ich gelernt, dass es sich lohnt, mutig zu sein. Es macht auch dem Publikum Spaß, wenn man mutig ist. Wir haben früher im Büro etwas flapsig gesagt, dass es zwei Methoden gibt, Architekturwettbewerbe zu gewinnen: Man kann es etwas besser machen als die Konkurrenz - oder man macht es völlig anders als die Konkurrenz. Ich mache keinen Hehl daraus, dass mir die zweite Methode mehr liegt. Nur mit Mut kann Außergewöhnliches entstehen.

Sie haben den Begriff Publikum verwendet. Ein Publikum ist unberechenbar und launisch; es kann dankbar, aber auch undankbar sein. Haben Sie die Sorge, dass Ihr Bahnhof am 27.November beim Publikum durchfällt? Das wäre dann die letzte Instanz...
Dieser Instanz stelle ich mich, keine Frage. Als Architekt finde ich es nur etwas problematisch, dass mein Entwurf jetzt zur Abstimmung gestellt wird und nicht erst, wenn er fertig ist. Ich bin skeptisch, ob sich alle Bürger den Bahnhof allein anhand der Pläne vorstellen können und seine verkehrlichen und städtebaulichen Qualitäten bewerten.

Sie haben doch etwas Muffensausen?
Nein, ich habe keine Angst vor dem Publikum. Und bevor Sie fragen: Ich habe auch keine Angst vor der Volksabstimmung.