Buen Nuhiji (links) steht neben seinem Anwalt Ingo Lenßen vor der Außenstelle Villingen-Schwenningen der Justizvollzugsanstalt Rottweil. Foto: Gollnow

Warum fielen Ermittler auf  Fantasiegeschichte herein? Familienvater kassiert Haftentschädigung dank Anwalt Lenßen.

Rottweil/Tuttlingen - Buen Nuhiji wird 2018 als vermeintlicher Drogen-Boss festgenommen. Mehr als ein Jahr verbringt er in Untersuchungshaft - bis sich vor Gericht herausstellt, dass er unschuldig ist. Ingo Lenßen, der aus dem Fernsehen bekannte Anwalt, vertrat ihn und ist auch Wochen und Monate nach dem bisher größten Betäubungsmittel-Prozess am Landgericht Rottweil noch fassungslos: "So etwas habe ich wirklich noch nie erlebt."

SEK stürmt vor Augen der Familie Wohnung

Das unbeschwerte Leben von Buen Nuhiji endet an einem Dezembermorgen im Jahr 2018. Beamte eines SEK-Kommandos stürmen in seine Wohnung in Tuttlingen. Sie sind auf der Suche nach Kokain und ringen ihn zu Boden. Der Familienvater wird vor den Augen seiner Söhne und seiner Frau in Handschellen abgeführt – als vermeintlicher Kopf einer Drogenbande. Mehr als ein Jahr lang sitzt der heute 44-Jährige in Untersuchungshaft – bis klar ist, dass nichts hinter den Vorwürfen steckt. "Weniger als nichts", sagt Lenßen.

"Freispruch auf ganzer Linie"

Belastet wurde Nuhiji von einem V-Mann der Polizei. Ein Freund aus Kindheitstagen in Albanien hatte die beiden im März 2018 zusammengebracht. "Mein Bekannter bat mich darum, ihn zum Bahnhof zu fahren. Er wollte dort jemanden abholen", berichtet Nuhiji. Der ihm unbekannte V-Mann sei eingestiegen, er habe die beiden dann vor einem Café abgesetzt. "Das war’s – ich habe mir nichts dabei gedacht", sagt der Familienvater.

Das Treffen wurde für Nuhiji zum Verhängnis. Der Mann, den der Familienvater da abgeholt hatte, war ein Informant der Polizei und sollte einen Kokain-Deal mit dem Bekannten über die Bühne bringen und damit eine Drogenbande überführen. Ermittler hatten alles aus der Ferne beobachtet und einen Zusammenhang zu Nuhiji vermutet, den der V-Mann in Vernehmungen später bestätigte.

Angeklagt wurde Nuhiji Ende 2019 mit acht weiteren Männern wegen bewaffneten bandenmäßigen Drogenhandels. Vor dem Landgericht Rottweil ging es unter anderem um 120 Kilogramm Kokain. 18 Verteidiger saßen im Gerichtssaal. Einer davon war Lenßen. "Mein Mandant hat immer bestritten, etwas mit den Drogen zu tun zu haben", sagt Lenßen, derzeit mit "Lenßen übernimmt" täglich bei Sat.1 zu sehen ist. Er habe den Fall übernommen, weil er von Anfang an an die Unschuld des Familienvaters geglaubt habe. Der "Freispruch auf ganzer Linie" im Februar 2020 gab ihm Recht.

Kronzeuge entpuppt sich selbst als Krimineller

Für die Polizei sei aber klar gewesen, dass Nuhiji der Kopf eines Drogendealer-Rings sei, berichtet Lenßen. Mit Fantasiegeschichten habe der V-Mann als vermeintlicher Kronzeuge in dem Verfahren Nuhiji belastet. Zunächst habe sich der Mann als Bulgare ausgegeben. Lenßen: "In der Hauptverhandlung kam dann raus, dass Arabisch seine Muttersprache war und er aus dem Libanon kam."

Der vermeintliche Kronzeuge habe nichts Konkretes gegen seinen Mandanten aussagen können, sagt Lenßen, der in Ludwigshafen am Bodensee zuhause ist. Im Gegenteil: Von Verhandlungstag zu Verhandlungstag verstrickte sich der 52-jährige Libanese in immer mehr Widersprüche und rückte so selbst ins Visier des Gerichts. Der Auszug aus dem bulgarischen Strafregister wirkte ernüchternd: Der Libanese soll 2006 wegen unerlaubten Handels mit Betäubungsmitteln, psychotropen Stoffen und Drogenausgangsstoffen zu einer Freiheitsstrafe von 15 Jahren verurteilt worden sein. Er soll Mitglied – oder je nach Übersetzung sogar Chef – einer kriminellen Vereinigung gewesen sein. Diese Bande hat vermutlich in einem Labor in Sofia Captagon-Tabletten hergestellt.

Warum hat die Staatsanwaltschaft nichts hinterfragt?

Die Frage, die viele Beteiligte fassungslos macht: Warum haben die Ermittler dem 52-jährigen Libanesen so grenzenlos vertraut? Warum haben sie nicht konsequent seine Vergangenheit und seinen Lebenslauf durchleuchtet? Warum hat die Staatsanwaltschaft nichts hinterfragt? Hat sie die Aussicht auf einen ganz großen Fang – eine mutmaßlich international agierende Dealer-Bande – so geblendet? Verlässlich und gut strukturiert – so hatte der zuständige Ermittler bei seiner Vernehmung den Kronzeugen geschildert. Davon merkte man im Prozess allerdings nur wenig. "Das ist absolut empörend, was da abgelaufen ist", echauffiert sich Lenßen heute noch.

Weil sich im Prozess immer mehr der Verdacht erhärtet hatte, dass Nuhiji kein Drogen-Boss sei, kam er schließlich noch vor dem Urteil auf freien Fuß. Die Staatsanwaltschaft wollte sich zu den Hintergründen des Falls auf Anfrage nicht äußern. "Eine nachträgliche Aufarbeitung eines abgeschlossenen Verfahrens erfolgt grundsätzlich nicht", teilt die Behörde mit.

"Drei Mal die Woche durfte ich duschen"

Im Gefängnis habe er sich immer wieder gefragt, wie das alles sein konnte, erzählt Nuhiji. Er sei fast den ganzen Tag in der Zelle gewesen. "Drei Mal die Woche durfte ich duschen – für je drei Minuten." Alle 14 Tage habe ihn die Familie besuchen dürfen. Das Gefühl freizukommen, sei unbeschreiblich gewesen.

Für seine Zeit im Gefängnis sei Nuhiji mittlerweile entschädigt worden, sagt Lenßen. Rund 60.000 Euro seien seinem Mandanten zugesprochen worden. Deutlich weniger wäre es dem Anwalt zufolge gewesen, wenn Nuhijis Arbeitgeber nicht – wie viele andere auch – an die Unschuld des Familienvaters geglaubt und ihn entlassen hätte. Stattdessen wurde er während der Haft lediglich freigestellt. Daher musste der Staat auch für seinen Verdienstausfall aufkommen.

Für den Sohn geht es auch um Entschädigung

"Für einen Tag zu Unrecht im Gefängnis bekam man in Deutschland 25 Euro am Tag", erklärt Lenßen. "Davon ziehen die aber noch Kost und Logis ab mit 6,15 Euro." Damit habe sein Mandant einen Anspruch auf 7500 Euro gehabt. "Dafür, dass man ihm seine Lebenszeit gestohlen hat", ist Lenßen immer noch fassungslos. Inzwischen wurde die Haftentschädigung auf 75 Euro pro Tag erhöht.

Sohn nach SEK-Einsatz taub

Wenn Nuhiji auf die vergangenen zwei Jahre zurückblickt, kann er es immer noch nicht ganz fassen: "Das war der Schock meines Lebens." Er habe sich gefühlt, wie im falschen Film.

Auch für einen der Söhne Nuhijis blieb der SEK-Einsatz nicht folgenlos. Dieser habe einen Gehörsturz erlitten und sei seitdem auf einem Ohr taub, sagt Lenßen. Auch für ihn streitet der Anwalt um Entschädigung.