"Die Lage ist brisant" – jeder Pflegeheim-Beschäftigte, der coronabedingt ausfalle, sei einer zu viel, machte der Kreis-Ordnungsamtsleiter Thomas Seeger in der Corona-Telefonkonferenz am Montag klar.
Kreis Rottweil - Ein Sommer ohne Sorgen – das hat sich wohl jeder gewünscht. Die Realität sieht laut Landrat Wolf-Rüdiger Michel jedoch anders aus. Das Coronavirus mache keine Sommerpause. Das liege unter anderem an einer hochansteckenden Variante, die drei Viertel der Infektionen verursache, und daran, dass es kaum mehr Begrenzungen gebe.
100-fach höhere Inzidenz
War die Inzidenz im Sommer 2021 teilweise noch einstellig, so liege sie in diesem Sommer 100-fach höher – wenn auch im Kreis Rottweil noch unter dem Landesschnitt, meinte Gesundheitsamtsleiter Heinz-Joachim Adam. Doch das seien ja immer nur Momentaufnahmen.
Die Fallzahlen seien aktuell so hoch wie im Winter 2021. Zum Vergleich: Im November und Dezember 2021 lagen sie zwischen 3400 und 3800. Im April 2022 lag die Fallzahl bei um die 3700 und im Juli 2022 bei 3000. Betrachtet man die Gesamtzahl der Corona-Fälle im Kreis, so wurden 2021 rund 13 100 gezählt, während es 2022 schon jetzt, vor dem Winter, rund 10 000 sind.
Zwar sei die Inzidenz, anders als bei der Delta-Welle, entkoppelt von der Hospitalisierung zu betrachten – aktuell gibt es mehr Fälle, jedoch weniger, die intensiv behandelt werden müssen – jedoch werde sich das wieder ändern, prognostizierte Adam.
Vorbote Australien
Und je mehr Viruserkrankungen es gebe, desto mehr Veränderungen der Virusoberfläche, sprich Mutationen, entstünden. Anders als bei der Influenza-Welle trete Corona zudem schnell und unerwartet auf.
Bei der Influenza sei der australische Winter (Mai/Juni) oft Vorbote für den deutschen Winter. Und dort habe es allein in zwei Wochen mehr als 25 000 neue Influenzafälle gegeben.
Dank der rund sechsmonatigen Vorlaufzeit könne man besser planen. Nach dem Sommer werde man wieder Grippeimpfungen anbieten, kündigte Adam an. Dank der Schutzmaßnahmen habe man zwei influenzafreie Jahre erleben dürfen, jedoch müsse man sich nun wappnen. Im Winter 2017/2018 hatte es die stärkste Influenzawelle der vergangenen 30 Jahre in Deutschland gegeben mit rund 25 000 Toten.
Hohe Dunkelziffer
Mit Blick auf Corona sind aktuell 16 Personen hospitalisiert, davon zwei auf der Intensivstation. Vergangene Woche habe es einen weiteren Todesfall gegeben. Die aktuell hospitalisierten Personen seien zwischen 63 und 92 Jahre alt. Gut die Hälfte ist laut Gesundheitsamtsleiter Adam "nur" zweimal geimpft.
Weiter beobachtet werde die Entwicklung der in Indien aufgetretenen BA.2.75-Variante, die laut Adam dreimal so ansteckend wie die Variante BA.5 sein soll. Sie soll Mutationen am so genannten Spike-Protein aufweisen. In Deutschland seien bisher wenige Fälle bekannt, man gehe aber von einer hohen Dunkelziffer aus, weil die Variantenbestimmung Wochen dauere.
Die Inzidenz werde in den kommenden Wochen weiter ansteigen, meinte Adam. Der Durchimpfungsgrad sei noch nicht ausreichend. Im Herbst werde ein neuer, an Omikron adaptierter Impfstoff erwartet. Die Impfzahlen steigen aber schon jetzt leicht an.
Zahl der Impfungen steigt
Während es im Rottweiler Impfstützpunkt lange nur um die 30 Impfungen wöchentlich gab, konnten in den zwei vergangenen Kalenderwochen rund 60 und 82 Corona-Impfungen vorgenommen werden. Der Großteil seien Viert- (von der STIKO ab dem 70. Lebensjahr empfohlen) und Drittimpfungen gewesen.
Der Impfstützpunkt ist montags bis freitags von 9 bis 12 Uhr und donnerstags von 14 bis 18 Uhr geöffnet. Verabreicht werde Biontech oder Moderna. Novavax werde es aufgrund der geringen Nachfrage nur noch bis Ende Juli geben. Danach sei es aber auf explizite Anfrage auch bestellbar, so Martine Hielscher vom Gesundheitsamt.
Thomas Seeger wusste derweil über die Impfungen in den ärztlichen Praxen Bescheid. Während es in Kalenderwoche 24 noch 27 Impfungen waren, wurden Ende Juni rund 500 Impfungen vorgenommen und Mitte Juli um die 250.
Ausbrüche in Heimen
Corona-Ausbrüche gebe es aktuell in sieben Heimen im Landkreis, sagte Ordnungsamtsleiter Seeger. Dabei seien jeweils zwischen drei und 36 Menschen betroffen, Bewohner und Personal. "Nur" ein Bewohner werde derzeit im Krankenhaus behandelt.
Angepasst wurde die Regelung zum Tätigkeitsverbot bei asymptomatischem positiv getestetem medizinischem Personal. Bisher musste sich dieses zwei Wochen lang absondern, künftig kann die Einrichtungsleitung das Tätigkeitsverbot aussetzen, sofern die Beschäftigten ab dem sechsten Tag keine typischen Symptome mehr aufweisen.
Pflegenotstand akut
Damit reagiere die Politik auf den Pflegenotstand. Bedauerlich sei jedoch, so Seeger, dass das Personal in Pflegeeinrichtungen davon nicht betroffen sei. Dort sei die Situation aber genauso angespannt. So habe man in vielen Einrichtungen freie Betten, die aber aufgrund fehlenden Personals nicht nutzbar seien.
Derzeit seien es 30 in Pflegeheimen Beschäftigte, die coronabedingt ausfallen. Das sei zwar ein kleiner Prozentsatz, "aber bei einem Pflegenotstand wie diesem sind 30 Personen 30 zu viel", betonte Seeger, insbesondere zur Urlaubszeit.
Nach wie vor müsse man sich fragen, ob man wirklich auf jedes Bierfest gehen und ohne Maske in der Schlange am Flughafen stehen müsse, appellierte Landrat Michel an die Umsicht der Bürger.
Affenpocken-Impfung
Zum Schluss ging Gesundheitsamtsleiter Adam noch auf die Affenpocken-Erkrankung ein. In Baden-Württemberg gebe es 90 bestätigte Fälle bei Menschen zwischen 17 und 80 Jahren. Bislang müsse man für eine Impfung noch nach Freiburg fahren. Sobald einzelne Dosen verfügbar seien, werde man sich auch im Kreis Rottweil gegen Affenpocken impfen lassen können.