Christian Wulff bezeichnet Schramberg als „Geburtsort feinmechanischer Industrie“. Foto: Rahmann

Nach seiner Eintragung ins Goldene Buch der Stadt Schramberg hielt Christian Wulff, ehemaliger Ministerpräsident von Niedersachsen und Bundespräsident a.D., im voll besetzten Schloss eine Rede über „Demokratie in Gefahr?“

Demokratie heißt manchmal Ringen, Kämpfen, Streiten“, betont Oberbürgermeisterin Dorothee Eisenlohr in ihrer Begrüßungsrede. Sie erinnert an lange Diskussionen im Gemeinderat wie über die Tennenbronner Halle: „Am Schluss standen Beschlüsse, die für die allermeisten okay waren.“

Wulff, der auch Vorsitzender der Deutschlandstiftung Integration ist, lobt Schramberg als eine Stadt, die schon geografisch – durch die fünf Täler – „offen nach verschiedenen Seiten ist“. Auch Reparatur- und Sprachcafé seien Orte der Begegnung über Herkunftsgrenzen hinweg.

Früher war nicht besser

Wulff mahnt, angesichts von Krieg, Klima und Corona-Folgen „von den vermeintlich guten alten Zeiten“ zu träumen und „nach dem starken Mann oder der starken Frau zu rufen“ – dieses Denken berge den Keim von Hass. Dem entgegen seien die früheren Zeiten keineswegs rosig gewesen. „Die erste Demokratie auf deutschem Boden endete bereits nach 14 Jahren“, blickt Wulff zurück in die Weimarer Republik. Jene wurde vom Nationalsozialismus zerschlagen, der „Unterstützerkreise bis in die Industrie hinein“ hatte. In Schramberg dagegen gab es noch im Februar 1933 eine große Demonstration gegen das NS-Regime: Schramberg wurde so „durch die Industriearbeiter ein Ort für Demokratiebewegung, auf die man stolz sein kann“, hebt Wulff hervor. Auch nach dem Krieg, als Schramberg bereits 1958 mit dem französischen Hirson eine Städtepartnerstadt einging, „dürfte es viele Widerstände gegeben haben“, so Wulff.

Nur 24 Demokratien

Der frühere Bundespräsident bezieht sich auf den Demokratie-Index der Economist Intelligence Unit 2022, wenn er erzählt, dass es weltweit nur 24 vollständige Demokratien gebe und damit nur acht Prozent der Weltbevölkerung in einer solchen leben. Er erwähnt eine Allensbach-Studie vergangenen Jahres, nach der 31 Prozent der Befragten dem Satz: „Wir leben nur teilweise in einer Demokratie, in Wirklichkeit haben die Bürger nichts zu sagen“, zustimmten. Laut Wulff sei der Fehler nicht im System oder in politischen Funktionsträgern zu suchen, sondern bei jenen, die „von der Tribüne“ aus „lästern“ oder sich „nur als Ich-AG um sich selbst kümmern“. Er schließt: „Demokratie funktioniert nur mit Demokraten.“

In Deutschland sei eigentlich die „Lage gut“, aber die „Stimmung miserabel“. Die Menschen in diesem Land haben, so Wulff, „noch nie so sicher gelebt wie heute“ und „trotzdem denken die Leute, sie könnten kaum noch vor die Haustür treten“.

Freund-Feind-Denken

„Jede Generation hat bestimmte zentrale Aufgaben“, sagt Wulff, die der kommenden sei den „Zusammenhalt unserer liberalen, offenen Gesellschaft zu sichern“ anstatt jenen zu folgen, „die am lautesten rufen oder am meisten Angst verbreiten“. Die „größte Gefahr“ sieht Wulff darin, dass „ein völliges Freund-Feind-Denken“ um sich greift.

Welt „enkeltauglich“ gestalten

Es brauche eine „ganz tiefgreifende Änderung“, sagt Wulff, um die Welt „enkeltauglich“ zu gestalten, das bedeute: „Menschlich, klimaneutral, demokratisch“. Nationalismus oder eine „Angst vor Überfremdung“ stehen dem entgegen, so Wulff. Besonders problematisch für ein demokratisches Streiten sei es zudem, wenn sich Menschen nicht mehr „auf eine gemeinsame Wirklichkeit beziehen“ und die Spaltung quer durch Familien und Freundeskreise reiche, die nicht mehr miteinander sprechen. Es gehe insgesamt um „die Zerbrechlichkeit des Großen und Ganzen.“