Bereitschaftspolizisten durchsuchen vor dem Stammheimer Gericht das Auto von Sympatisanten des verbotenen „Osmanen Germania Boxclub“ Foto: dpa

Das Richterquintett unterschied bei seiner Urteilsfindung zwischen Bandenkriminalität und Bestrafungsaktionen sowie der politischen Dimension des Osmanen-Verfahrens.

Stuttgart - 50 Tage lang rangen Richter, Staatsanwälte, Verteidiger und Angeklagte in Stuttgart-Stammheim um die Wahrheit. Ein fußballfeldgroßer Gerichtssaal, Wellblechdach, an der Stirnwand aus geweißten Backsteinen halten goldener Hirsch und Greif Baden-Württembergs gekröntes Wappen mit den drei Löwen. Hier verkündeten unter dem Vorsitz von Joachim Holzhausen die drei Berufsrichter und zwei Schöffen der 3. Großen Jugendstrafkammer ihr Urteil gegen sieben Mitglieder des Osmanen Germania Boxclubs, den Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) im vergangenen Juli verbot. Zu den Angeklagten gehörten mit Mehmet Bagci, Selcuk Sahin und Levent Uzundal auch drei frühere Angehörige des sogenannten Weltpräsidiums der rockerähnlichen Gruppe.

Das Urteil

Die Angeklagten wurden vor allem wegen Gewaltdelikten verurteilt. Einzig der frühere Weltanführer der Osmanen, Mehmet Bagci, wurde wegen versuchter Strafvereitlung zu einer achtmonatigen Haftstrafe verurteilt, die zur Bewährung ausgesetzt wird. Sein Stellvertreter Sahin wurde wegen gefährlicher Körperverletzung und versuchter räuberischer Erpressung für drei Jahre und vier Monate ins Gefängnis geschickt. Uzundal, Stuttgarter Filialleiter der Osmanen und Waffenmeister der Weltgruppe, muss für sechs Jahre und sechs Monate in Haft. Er ist der gefährlichen Körperverletzung, der räuberischen Erpressung und des Menschenhandels zum Zwecke der sexuellen Ausbeutung schuldig. Ihm und Sahin droht zudem nach ihrer Haftentlassung die Abschiebung in die Türkei, weil sie keine deutsche Staatsbürgerschaft besitzen. Die anderen Angeklagten wurden zu Haftstrafen verurteilt – von zwei Jahren auf Bewährung über drei Jahre und acht Monate Jugendstrafe bis zu vier Jahren und fünf Monaten.

Die Taten

In Altbach (Kreis Esslingen) und Dettingen (Kreis Reutlingen) malträtierten im Januar 2017 Osmanen Mitglieder, die die Gruppe verlassen wollten. Sie forderten von den Männern Austrittsgelder in Höhe von 500 und 2000 Euro. Zudem wurden die Männer geschlagen und gedemütigt. Der in die Türkei geflohene Stuttgarter Vize-Anführer Mustafa Kilinc fiel dabei als besonders gewalttätig auf. Ein „gewaltverliebter Möchtegern-Anführer mit paramilitärischen Ambitionen“, beschrieb Richter Holzhausen ihn. Im Dezember war Kilinc unter der Zusicherung freien Geleits aus der Türkei nach Stuttgart gekommen, um als Zeuge befragt zu werden. Das aber verweigerte er.

Bestrafung in Herrenberg

Am 2. Februar 2017 malträtierten Kilinc und weitere Kumpane in Herrenberg den Gießener Osmanen-Chef Celal Sakarya. Sie schlugen ihm mit einer Rohrzange Zähne aus und schossen ihm in den linken Oberschenkel. Sakarya hatte mit der Geliebten Kilincs, die als Prostituierte arbeitete, Kontakt aufgenommen. Nach den Regeln der Osmanen ein schweres Vergehen. Bei einer Besprechung Kilincs mit Sahin und Uzundal in Frankfurt hatte gar im Raum gestanden, Sakarya zu töten. Das aber verbot Sahin. Stattdessen kam man überein, dem Querulanten eine „Abreibung zu verpassen“ und ihm die Kutte abzunehmen. „Ein völlig sinnloses Gewaltgeschehen: Ein Chat mit einer Prostituierten – und das hat dann diese Folgen“, wertete Holzhausen. Die Tat sei „dem absurden Ehrenkodex der Osmanen geschuldet“. Sahin und Uzundal hätten zwar nicht angeordnet, dass auf Sakarya mit einer Zange eingeschlagen und auf ihn geschossen wurde. Aber es war beiden bekannt gewesen, was für ein Mann Kilinc ist. Bei der Rekonstruktion der Tat stützten sich die Richter vor allem auf die Aussage des Cousins von Uzundal, der selbst an der Tat beteiligt war und ebenfalls in die Türkei floh. Er hatte als Vertrauensperson der Polizei seinem Führungsbeamten von der Tat erzählt, Details und Namen genannt.

Zeugenbeeinflussung

Mehmet Bagci kannte bereits kurz nach der Verhaftung seines Freundes Sahin am 24. Juni 2017 den Haftbefehl und wusste so auch, dass dieser sich auch auf die Zeugenaussage Sakaryas stützte. Um 6.55 Uhr begann er einen Tage andauernden Chat-Verkehr mit Sakarya, in dem er diesen versuchte zu einer Falschaussage zu bewegen. In der Tat kooperierte Sakarya in der Folge mit Sahins Anwalt Julian Heiss. Bagci hat „definiert, was als Wahrheit zu gelten hat: Sahin hat mit der Sache nichts zu tun“, sagte Holzhausen.

Das Verfahren

Der Vorsitzende Joachim Holzhausen machte deutlich, dass es in dem Stuttgarter Verfahren ausschließlich „um Bandenkriminalität und interne Bestrafungsaktionen, nicht jedoch um die politische Dimension“ der Osmanen ging. Das ZDF-Magazin „Frontal 21“, unsere Zeitung und die „Neue Zürcher Zeitung am Sonntag“ hatten nach jahrelanger Recherche nachgewiesen, dass die Osmanen in ein System des türkischen Nachrichtendienstes MIT, der türkischen Regierungspartei AKP und dessen deutschem Lobbyverein „Union der Europäisch-Türkischen Demokraten“ verstrickt waren. Über einzelne Aktionen in Deutschland entschied der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan persönlich, sein Jugendfreund und Vertrauter Metin Külünk übergab Bagci Geld für Waffenkäufe. Eine Verquickung beider Ebenen, sagte Holzhausen, dürfe es in den Medien geben. „Aber als Strafkammer dürfen wir genau das nicht.“

Vorwurf der Isolationshaft

Bis zum letzten Prozesstag fand das Gerichtsverfahren im für Terrorprozesse genutzten Gerichtssaal am Stammheimer Gefängnis statt. Bereitschaftspolizisten – teilweise aus Bayern – sicherten seit dem ersten Verhandlungstag am 29. März 2018 das Gebäude von außen, teilweise auch im Gerichtssaal. Für die Verteidiger ein Indiz für ihre Kritik, ihre Mandaten befänden sich in „Isolationshaft“, also einer Haft, die darauf ausgerichtet ist, den Gefangenen physisch und psychisch zu brechen. Den Vorwurf wies Holzhausen zurück: Ein Aufeinandertreffen der damals noch erlaubten Osmanen und der ihnen verfeindeten, kurdisch geprägten Bahoz (Kurdisch für Sturm) „in den engen Räumen des Landgerichts war zu risikoreich“.

Die Osmanen

Die Richter kamen zu dem Ergebnis, dass die von Bagci und Sahin gegründeten Osmanen eine bundes- und landesweit agierende Gruppe war, allerdings „nicht bis ins letzte durchorganisiert“. Vielmehr war sie mit einem Franchise-Unternehmen vergleichbar: „Jeder konnte ein Chapter gründen, der genügend Geld an Bagci und Sahin bezahlte.“ Mit entscheidendem Nachteil: Die schnelle Rekrutierung von Mitgliedern führte auch dazu, dass „schnell Leute in den Club kamen, die schwer zu führen waren. Die Folge war ein sprunghafter Anstieg an Ermittlungsverfahren.“

Annahme des Urteils

Noch im Gerichtssaal nahmen drei der Verurteilten, unter ihnen Levent Uzundal, das Urteil an. Die anderen haben eine Woche Zeit zum Widerspruch.

Reaktionen

Der Grünen-Bundestagsabgeordnete Cem Özdemir sagte: „Die Spitze der Osmanen ist nun da, wo sie hingehört, und zwar hinter Gefängnismauern. Gut, dass hier das Recht gesprochen hat. Es wäre aber fatal, mit dem Urteil das Thema Osmanen einfach abzuhaken. Denn der Prozess hat nur die Spitze des Eisbergs aufgedeckt. Darunter tun sich Abgründe auf, die nach Aufklärung schreien.“

Für Hans-Ulrich Rülke, FDP-Fraktionschef im Landtag, bleibt „als bitterer Nachgeschmack das Versäumnis von Landes- und Bundesregierung, der politischen Dimension der Osmanen als Kampftruppe Erdogans nicht richtig nachgegangen zu sein. CDU, Grüne und SPD gehen mit den Gefahren des türkischen Nationalismus weiter viel zu nachlässig um.“

Alexander Maier, Rechtsextremismussprecher der Grünen im Landtag, sagte: „Unser Rechtsstaat lässt nicht zu, wenn aus dem Ausland gesteuerte Gruppen unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung bekämpfen, organisierte Straftaten begehen, Aussteiger foltern oder Regimekritiker einschüchtern.“