Natalija Tutijunikow, Daria und Sergeij Tunikow – die drei Ukrainer haben in Horb einen Hafen gefunden. Foto: Jürgen Lück

"Mein Mann bekam um 4.50 Uhr Alarm. Ich habe uns vier Frauen und die Katze ins Auto gepackt und bin losgefahren!" Das war am 24. Februar 2022 – dem Kriegsbeginn in der Ukraine. Jetzt sitzt Daria (39) in Horb – zwischen Natalija und Sergeij Gomolska.

Plötzlich schlagen die Bomben ein. Du willst nur noch weg. Darfst auch, weil du Frau oder alt bist. Kommst in die Fremde. Und du erkennst: Der Wahnsinn des Krieges hat dich entwurzelt. Ein Schicksal, das wir aus den Erzählungen unserer Vorfahren kennen Natalija Tutijunikow (59), Sergeij Tunikow (59) und Daria (39) aus Charkiw hat es am 24. Februar 2022 ereilt.

Darias Mann ist Polizeioffizier. Sie sagt: "Ich hoffe und bete, dass er eine Woche Urlaub bekommt und ich ihn bald wiedersehe. Ich will so schnell wie möglich wieder zurück und mein normales Leben leben!"

Der aus Horb stammende Rechtsanwalt und Kommunalpolitiker (CDU) Johannes Kettenhofen – dessen Frau Mariya Gomolska viele Ukrainer kennt – hat Daria mit ins Steigle gebracht: "Angesichts der drohenden Offensive der Russen ist das wohl eher unwahrscheinlich. Da braucht die Ukraine jeden Mann!"

Verschollen in Mariupol

Natalija Gomolka – seine Schwiegermutter – kennt diese Ungewissheit. Als der Schwabo sie Anfang April 22 trifft, weiß sie nur: Sie kam heil raus aus der Ukraine. Doch ihr Mann Sergeij – verschollen in Mariupol.

Natalia: "Die Russen haben die Mobilfunkmasten umprogrammiert. Alte Telefonnummern sind weg. Man kann die Leute nur noch über Whatsapp und Internet erreichen – wenn überhaupt!"

Jetzt sitzt Sergeij in Horb. Er sagt: "Ich war in Mariupol in unserer Eigentumswohnung. Eine Bombe hatte den Aufzug zerstört. Ich bin dann nach Donezk zu einer Bekannten." Natalija: "Als die mich anrief, dass Sergei bei ihr ist, ist mir ein Stein vom Herzen gefallen!"

Sergeij: "Was in der Ukraine passiert ist, darüber will ich nicht groß reden. Manchmal wache ich nachts auf und denke an die schlimmen Erlebnisse!"

Tochter war dauerdepressiv

Sergeij häkelt jetzt. Für die Enkel. Er lächelt: "Das war schon immer mein Hobby."

Natalija: "Wir lernen fleißig deutsch. Wir haben jetzt einen Mini-Job bei der katholischen Kirche!"

Daria (39) ist aus Charkiw in der Ukrainer nach Horb geflüchtet. Foto: Lück

Daria (39) will unbedingt zurück. Denn: Der 24. Februar 2022 hat sie völlig aus dem Leben gerissen. Die studierte Juristin: "Wir hatten einen guten Lebensstandard. Wir sind viel gereist – jeder unserer Familie lebte in seinem eigenen Haus." Seitdem die Bomben in ihrer Heimat einschlugen, lebt Daria mit Oma (84), Mutter (60) und Tochter (15) in den ihr zugewiesenen Mietwohnungen in Deutschland. Daria: "Das ist ganz anders. Inzwischen habe ich die Vaterrolle für die drei Frauen übernommen!"

Die Tochter – rausgerissen aus dem Leben in der Ukraine – zunächst zurückgezogen. Daria: "Das erste halbe Jahr war sie dauerdepressiv. Schachspielen ist Kult in der Ukraine. Als wir mitbekommen haben, dass es da ein Angebot im Marmorwerk gibt, ist meine Tochter hingegangen. Seitdem geht es ihr besser. Der Papa, das normale Leben fehlt ihr. Jetzt hat sie nur den weiblichen Teil."

Bleibt sie doch hier?

Daria. Geschäftsfrau. Jetzt checkt sie Dokumente, falls ihr Mann mal Deutschland-Urlaub bekommt. Ist jeden Samstag bei Irena Romanyuk zum Integrationskurs. Sagt: "Das ist meine deutsche Familie. Nicht nur ich, sondern auch meine Tochter lernt fleißig deutsch. Sie will aufs Gymnasium gehen und hat das Ziel, vielleicht Jura in Tübingen zu studieren."

Die Mutter freut sich über die Zukunftsperspektive ihrer Tochter. Bleibt sie vielleicht doch in Deutschland? Daria: "Sobald der Anruf kommt, fahre ich mit meiner Tochter wieder zurück!"