Die 1859 erbaute Wulle-Brauerei an der damaligen Neckarstraße: Anfang der 1970er Jahre wurden die Gebäude abgerissen – heute befinden sich hier das Hotel Le Méridien und Ministerien. Foto: Wulle

Im Saalbau hatten 1000 Menschen Platz. Viele Stuttgarter haben sich bei den legendären Tanzabenden in der Wulle-Brauereigaststätte kennengelernt. Jetzt geht’s mit Bier zu den Wurzeln zurück. Das Hotel Le Méridien hat eine Wulle-Bar eröffnet. Erinnerungen an das Auf und Ab einer Biermarke.

Stuttgart - Bei WWW dachte damals keiner an World Wide Web. WWW – das war die Abkürzung für „Wir wollen Wulle“. Wann der legendäre Werbeslogan erfunden worden ist, konnte bis heute nicht eindeutig geklärt werden. „Es muss in den 1930ern gewesen sein“, sagt Stefan Seipel, Marketing-Chef von der Brauerei Dinkelacker-Schwabenbräu, der heute Wulle gehört.

Mit dem alten WWW-Spruch kehrte der Erfolg zurück. 37 Jahre lang war die Marke vom Markt verschwunden. Seit 2008 wird das Wulle-Bier an der Tübinger Straße gebraut – und dort, wo alles angefangen hat, zwischen der Willy-Brandt-Straße und dem Kernerplatz, wird es jetzt auch wieder ausgeschenkt. Die Theke befindet sich in einem früheren Friseursalon im Gebäudekomplex des Ministeriums für Landwirtschaft.

Es war ein weiter Weg von der Brauerei bis zum Fünf-Sterne-Hotel. 1859 hatte der Bierbrauer Ernst Imanuel Wulle die Grundstücke Neckarstraße 60 und 62 erworben, die sich bis zur Mitte des Kernerplatzes erstreckten. Der in der Nähe von Tübingen geborene Wulle kam aus einfachen Verhältnissen und hatte in der Großstadt Stuttgart das Brauereihandwerk erlernt. Die Heirat mit Wilhelmine Stotz, die aus reichem Hause stammte, brachte ihm das nötige Kapital, um mit einem Teilhaber (der rasch wieder ausstieg) die Wulle-Brauerei zu gründen.

Nach Kriegsende stieg Bierverkauf kontinuierlich

Wulle musste wie all seine Kollegen kämpfen. Der Gerstensaft war im Vergleich zu Wein teuer – die Württemberger bevorzugten ihr Viertele und Most. Für Erfolg sorgte seine Brauereigaststätte, in der legendäre Tanzabende stattfanden. Wulle kümmerte sich nicht allein um die Bierkultur. Sein Unternehmen erbaute 1900 den Friedrichsbau und begründete damit die Varieté-Tradition in Stuttgart. Von Juli 1942 an wurde das von der Brauerei hergestellte Spezial-Bier nur noch an Soldaten ausgeliefert. Kriegsbomben zerstörten 1943 die Malzerei und beschädigten das Brauereigebäude. Bei Luftangriffen wurden 35 Wirtschaftsanwesen in Trümmer gelegt, darunter auch der Friedrichsbau.

Nach Kriegsende erholte sich die Firma Wulle – der Bierverkauf stieg kontinuierlich. Der Werbespruch „Wir wollen Wulle“ war in aller Munde und wurde ergänzt: „Wir wollen Wulle, weil wir wissen wollen, wie Wulle wirkt.“ Der Markt konzentrierte sich auf immer weniger Firmen. Die Geschichte der Stuttgarter Brauereien liest sich wie ein Spielplan von Monopoly. Ständig kaufte irgendwer irgendwen auf. 1971 übernahm Dinkelacker Wulle und legte das Ende des bisherigen Konkurrenten fest. Die Brauerei an der Neckarstraße wurde stillgelegt und abgerissen. Für Jahre entstand eine hässliche Baulücke. Damals blieben Warnungen aus. Keiner dachte daran, dass eine Stadt sorgsam mit der Architektur der Vorfahren umgehen muss, dass man aus alten Gebäuden etwas Neues machen kann, dass Flair und Charme einer Metropole auch von ihrer historischen Bausubstanz abhängen. In der Brache entstanden schließlich das Hotel Interconti, aus dem später das Fünf-Sterne-Hotel Le Méridien hervorgegangen ist, sowie Ministerien des Landes. An die Geschichte des Ortes erinnern heute der Wulle-Steg, der über die Willy-Brandt-Straße führt, sowie die Wulle-Staffel zum Kernerplatz.

Wulle-Staffel, so heißt die neue Bar, in der Bügelflaschen einer alten Marke ploppen. 2008 hatten Marketingstrategen die Idee, im Abwehrkampf gegen das Tannenzäpfle von Rothaus kleine Flaschen auf den Markt zu bringen, die dem Retrotrend folgen. Es war ein hartes Stück Arbeit, die Chefs der Brauerei davon zu überzeugen. Die Werbung mit alten VW-Bussen und dem rot-weißen Original-Logo übertraf die Erwartungen. Heute erzielt Dinkelacker-Schwabenbräu mit Wulle die größten Zuwächse. Ein neuer Spruch auf Wulle-Karten hat das Zeug zum Klassiker: „Ich will ein Bier von dir!“