Gemeinsamer Unterricht – eines der Themen, die sich aus der UN-Behindertenrechtskonvention ableiten Foto: dpa

Menschen mit Behinderung sollen nach dem Willen der Vereinten Nationen in allen Lebensbereichen selbstverständlich dazugehören; man nennt das Inklusion. Um diesem Ziel näher zu kommen, hat die Landesregierung jetzt einen Aktionsplan beschlossen.

Stuttgart - „Die Verwirklichung einer inklusiven Gesellschaft ist eine der zentralen Herausforderungen für die kommenden Jahre“, sagte Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) bei der Vorstellung des Aktionsplans der Landesregierung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. Ein Satz wie aus einer Sonntagsrede, vorgetragen am Dienstag auf der Landespressekonferenz in Stuttgart.

Bei schönen Worten soll es nicht bleiben. Dafür will der in seinem Amt unabhängige Behindertenbeauftragte der Landesregierung, Gerd Weimer, sorgen. „Ich habe schon viele Pläne in Schubladen verschwinden sehen“, sagt Weimer. Diesen Weg soll der Aktionsplan nicht nehmen. Darauf will er achten, zumal das 230 Projekte umfassende Inklusionspaket der Landesregierung neben gutem Willen auch entsprechende finanzielle Mittel erfordert.

Enthalten sind darin auch bereits begonnene Maßnahmen wie das Wohnort-, Teilhabe- und Pflegegesetz, das eine Vielfalt an Wohnformen sicherstellt, und die neue Landeswohnraumförderung, die das Ziel hat, mehr barrierefreien Wohnraum zu schaffen.

Ein zentrales Vorhaben ist der stufenweise Abschied von großen Komplexeinrichtungen, in denen viele Menschen mit Behinderung untergebracht sind. 2011 (jüngste verfügbare Zahlen) lebten rund 7500 Behinderte in Einrichtungen mit mehr als 100 Plätzen. Die UN-Behindertenrechtskonvention favorisiert dezentrale Behinderteneinrichtungen. Dem will das Land verstärkt Rechnung tragen. „Wir fördern in einem sehr viel höherem Maße als in der Vergangenheit Projekte, die gemeindenah sind und nicht die große Anstalt auf der grünen Wiese“, sagte Sozialministerin Katrin Altpeter (SPD) am Dienstag.

Von den jährlich 20 Millionen Euro, die bisher in Komplexeinrichtungen flossen, werden jetzt zehn Millionen Euro in dezentrale Wohnprojekte umgelenkt. Weitere fünf Millionen Euro stehen für innovative Projekte bereit. Dazu zählen Wohngemeinschaften, in denen Studenten gegen einen Mietabschlag mit Schwerstbehinderten unter einem Dach leben; sie sind dort nicht Betreuer, sondern „Kumpels“, sagt Weimer.

Ein anderes Projekt trägt den Namen „Bison“ und richtet sich an Sportvereine; sie sollen sich für Menschen mit Behinderung öffnen. Das Projekt ging, wie viele andere, aus vier Regionalkonferenzen hervor, die Weimer mit Betroffenen organisierte.

Weitere Bestandteile des Aktionsplans sind barrierefreie Krankenhäuser und ein bundeseinheitliches Zertifizierungssystem für einen behindertenfreundlichen Tourismus. In diesem Zusammenhang verweist Weimer auf Fortschritte beim Zutritt zu Denkmälern – in der Vergangenheit ein schwieriges Thema, weil bauliche Umgestaltungen den Denkmalschutz berühren. Um auf die Problematik aufmerksam zu machen, setzte er sich selbst in einen Rollstuhl und versuchte diesen im Kloster Bebenhausen über das grobe Pflaster zu bewegen. Nun werden dort Fahrspuren für Rollstuhlfahrer eingerichtet.

Ein Schwerpunkt des Aktionsplans liegt im Bildungsbereich. Das Kabinett beschloss am Dienstag eine Änderung des Schulgesetzes, das für Eltern behinderter Kinder künftig ein Wahlrecht beinhalten soll. Außerdem will Grün-Rot die Weiterentwicklung der Sonderschulen zu sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren ermöglichen. Ein eigener Beitrag der Landesregierung besteht in der Schaffung zusätzlicher Ausbildungsplätze für schwerbehinderte Jugendliche in den vier Regierungspräsidien des Landes. Für Weimer ein überfälliger Schritt, weil der Anteil der Menschen mit Behinderung in der Landesverwaltung bisher erst 5,1 Prozent beträgt. Die Landesregierung erfüllt die gesetzlich vorgeschriebene Quote von fünf Prozent damit nur knapp. „Wir müssen aber Vorbild sein“, sagt Weimer.

Vorbildlich findet der Behindertenbeauftragte dagegen, dass die Regierung den Kommunen bei der Finanzierung von Baumaßnahmen und der Assistenz für Menschen mit geistiger Behinderung entgegenkommt: Dafür fließen nach einem Kabinettsbeschluss vom Dienstag in den Jahren 2015 bis 2017 insgesamt 72 Millionen Euro. Allesamt Randthemen? Die Zahlen sprechen dagegen: 1,7 Millionen Baden-Württemberger haben laut Sozialministerium eine Behinderung – mehr als zehn Prozent.