Am Tübinger Landgericht fiel das Urteil im Messerstecher-Prozess. Foto: Sebastian Bernklau

Weil er einem Mann nach einem Streit im Nagolder Stadtpark Kleb in den Rücken gestochen hat, verurteilte das Schwurgericht am Landgericht Tübingen einen jungen Afghanen zu fünf Jahren Haft. Ins Gefängnis muss der Mann aber nicht. Das Gericht ordnete seine sofortige Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus an.

Tübingen/Nagold - Bevor der Vorsitzende Richter Armin Ernst die Beweisaufnahme im Prozess um die Messerstecherei im Nagolder Stadtpark Kleb schloss, stellte ein Sachverständiger in seiner Aussage fest, dass der angeklagte Afghane unter einer bislang nicht behandelten schizophrenen Psychose leide. Eine Feststellung, die den Ausgang des Prozesses maßgeblich beeinflussen sollte.

"Er wollte töten"

Nach Abschluss der Beweisaufnahme schlägt vor Gericht stets die Stunde von Staatsanwaltschaft und Verteidigung – bei den Plädoyers. Bei diesem Prozess hätten die Unterschiede in den beiden Plädoyers kaum größer sein können. Staatsanwältin Stephanie Schatz sah alle ihre Vorwürfe aus der Anklage bestätigt. Bei dem Konflikt mit dem Opfer habe der Angeklagte "aus Wut und Rache zugestochen" – und das "zielgerichtet" in den Rücken. "Er wollte töten", zeigte sich die Staatsanwältin überzeugt. Die jeweiligen Begleiter der beiden Männer hätten dadurch, dass sie den Angeklagten festhielten, verhindert, dass er noch einmal auf das Opfer einsticht und es möglicherweise tötet. Das Opfer, ein 40-jähriger Mann, habe den Beschuldigten zwar provoziert, aber eine Notwehrsituation habe nicht vorgelegen. Für den Angeklagten, den die Staatsanwältin als "gewohnheitsmäßigen Messerstecher" bezeichnete, forderte sie eine Gesamtfreiheitsstrafe in Höhe von achteinhalb Jahren.

"Im Scharmützel passiert"

Ganz anders Verteidiger Christian Schmidtberg. Der zog in seinem Plädoyer zunächst einmal die Aussagen einiger Zeugen in Zweifel. "Zeit macht vergesslich", so der Anwalt, der Kritik an der Arbeit der Polizei übte, dort habe "Chaos" geherrscht. Einen Tötungsvorsatz konnte er bei seinem Mandanten nicht erkennen, vielmehr habe er aus Notwehr gehandelt und habe sich mit dem Messer schützen wollen. Der Stich in den Rücken des Opfers sei eher "im Scharmützel passiert", erklärte der Verteidiger, der für seinen Mandanten im Fall der Messerstecherei auf Freispruch plädierte.

In seinen letzten Worten, bevor sich das Gericht zur Beratung zurückzog, bestätigte der Angeklagte die Ansicht seines Anwalts, betonte, dass er sein Leben verteidigt und niemandem Unrecht getan habe.

Fünf Jahre Haft für Messerattacke

Dreieinhalb Stunden später verkündete der Vorsitzende Richter Armin Ernst das Urteil des Gerichts: Fünf Jahre Haft wegen der Messerstecherei und ein Jahr Haft für weitere angeklagte Taten – darunter eine Messerattacke auf einen Mitbewohner in einer Asylbewerberunterkunft in Schömberg und Drogenbesitz. Darüber hinaus ordnete das Gericht die sofortige Unterbringung des Mannes in einem psychiatrischen Krankenhaus an. Das hat zur Folge, dass der Afghane nicht in Haft muss, sondern sofort nach Bad Schussenried überstellt wird.

"Dann hat der Angeklagte rot gesehen"

Was die Tat in Nagold angeht, folgte das Gericht im Wesentlichen den Schilderungen der Staatsanwaltschaft. Demnach habe es zwischen dem späteren Täter und dem späteren Opfer zunächst beim Edeka-Markt in Nagold wegen Schulden aus einem Drogengeschäft eine handgreifliche Auseinandersetzung gegeben. Doch man trennte sich schnell wieder, traf wenig später aber im Stadtpark wieder aufeinander. Dort habe das Opfer den Angeklagten provoziert, es flogen die Fäuste. Dann verletzte das spätere Opfer den Afghanen mit einem Schlüssel an der Nase. "Dann hat der Angeklagte rot gesehen", so der Richter. Er habe das Messer gezogen und in Richtung des Opfers gestochen, der versuchte sich zu schützen, erlitt dabei Schnittwunden an den Händen. Kurz konnten die Begleiter den Angreifer festhalten. Doch nicht lange. Er riss sich los und verfolgte sein Opfer und stach es einmal in den Rücken. In der Folge kollabierte der linke Lungenflügel des Mannes. Nur eine Notoperation rettete dessen Leben. Eine Notwehrsituation sah das Gericht nicht, das habe ja noch nicht einmal der Angeklagte in seiner Aussage so dargestellt.

Richter: "Das ist ein Unding"

Was die Psychose angeht, so sei sie bei dieser Tat in Nagold zwar nicht ausschlaggebend gewesen, wohl aber bei der anderen Messerattacke auf den Mitbewohner. "Er zögert offensichtlich nicht, sein Messer einzusetzen", stellte der Richter fest. "Das in Kombination mit den Wahnvorstellungen der Psychose macht den Mann gefährlich für die Allgemeinheit", begründete der Richter die sofortige Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus.

Schon im Verlauf der Verhandlung hatte der Vorsitzende Richter harsche Kritik an der Ermittlungsarbeit der Polizei geübt. Diese Kritik wiederholte Armin Ernst in aller Deutlichkeit bei der Verkündung des Urteils. Das Vorgehen der Ermittler sei "unverständlich", etwa dass Schutzpolizisten in einem solchen Fall Vernehmungen führten. Es könne auch nicht sein, dass der Ermittlungsführer der Kripo keine Vernehmung in einem solchen Fall durchführe. "Das ist ein Unding", ärgerte sich der Richter. "Die Staatsanwaltschaft muss Sorge dafür tragen, dass sich so etwas nicht wiederholt", urteilte der Vorsitzende Richter über die Ermittler.