Im Dezember 2016 hatte sich die schlimme Tat ereignet. Jetzt wurde vor dem Rottweiler Jugendschöffengericht das Urteil gesprochen. Foto: Röseler

20-jähriger Tuttlinger sticht seinen Stiefvater halb tot und ruft dann Rettungsdienst. Zu Freiheitsstrafe verurteilt.

Rottweil/Tuttlingen - Mit einem Küchenmesser stach er auf seinen Stiefvater ein, brachte ihn fast um. Nun hat ein 20-jähriger Tuttlinger drei Jahre und vier Monate Jugendstrafe bekommen.

Ein Wimmern klingt durch den Sitzungssaal des Rottweiler Jugendschöffengerichts. Im Saal ist es heiß, trotzdem jagen die Geräusche den Prozess-Zuhörern Schauer über die Rücken. "Bitte helfen Sie mir" ist in dem Nuscheln und Lallen einer männlichen Person zu verstehen. "Überall läuft Blut raus." "Warum ist überall Blut?", fragt eine klare zweite Stimme, es ist die eines Mitarbeiters der Notrufzentrale. Die Person am anderen Ende schluchzt, nuschelt wieder etwas, gibt keine Antwort auf die Frage. Nur: "Überall liegt Blut auf dem Boden" und – mehrmals ein flehentliches "Bitte kommen Sie".

Mit Küchenmesser brutal auf Opfer eingestochen

Als die Aufzeichnung zu Ende ist, sagt Amtsgerichtsdirektorin Petra Wagner: "Kein einfacher Job." Sie meint den des Mitarbeiters der Notrufzentrale. Er hat das Gespräch mit dem Angeklagten geführt. Dieser hat das Abspielen aufmerksam mitgehört, aber kaum Regungen gezeigt. Dabei handelt es sich um ein Puzzlestück der bisher wohl schlimmsten Episode im Leben des schmächtigen 20-Jährigen: den Tag im Dezember 2016, an dem er im Suff auf seinen Stiefvater losging. Auf einen Mann, der körperlich schwer krank und deswegen an sein Bett gefesselt war. Mit einem Küchenmesser stach der junge Alkoholiker laut Richterin mit "gravierendster Gewalt" auf den 71-Jährigen ein, dieser lag währendessen vermutlich in seinem Bett und konnte sich kaum wehren.

"Sie haben billigend in Kauf genommen, dass er stirbt", sagt Wagner in der Urteilsbegründung. Ein Tötungsvorsatz also – von dem aber abzusehen sei. Denn: Nach seinem Gewaltexzess hatte der Tuttlinger alles Mögliche getan, damit sein Opfer nicht stirbt. Er versuchte, den alten Mann zu verbinden, rief den Rettungsdienst, wandte sich mit der Bitte um Hilfe an einen Nachbarn. Der 71-Jährige überlebte, ist jedoch im März dieses Jahres seinen Krankheiten erlegen. Laut Einschätzung einer rechtsmedizinischen Sachverständigen habe die Attacke hierbei keine Rolle gespielt.

Warum kam es aber zu dem Angriff? Selbst der Verteidiger des Angeklagten sagt in seinem Plädoyer: "Das Tatgeschehen lässt einen hilflos zurück." Das Motiv bleibe im Dunkeln. Der 20-Jährige hatte im Prozess ausgesagt, konnte sich jedoch nur noch lückenhaft erinnern. Er sprach von einem vermeintlichen Streit im Wohnungsflur mit dem Opfer, in Folge dessen es zu Gewalt gekommen sei.

Dies bezweifelt der Staatsanwalt, er meint: "Das kann so nicht passiert sein." Diese Darstellung lasse sich nicht mit den Beweisen in Einklang bringen. So hatten die Ermittler im Flur nur minimale Blutspuren gefunden, den Großteil im Bett und im Schlafzimmer des Opfers. Seine Interpretation: Der Angeklagte überfiel seinen Stiefvater, als dieser im Bett lag. Nach der Tat kam er zum Nachdenken und erkannte sein Tun.

Das Opfer sei "ohne jede Rechtfertigung" angegriffen worden, stellt Richterin Wagner fest. Zwar sei der Angeklagte unter sehr starkem Einfluss von Alkohol gestanden, er hätte jedoch durchaus kontrollieren können, was er tue. So hatte der Tuttlinger nach seiner Tat das Messer weggeworfen und zuerst einen anderen Täter erfunden.

"Sie haben einen Hang, unter Alkoholeinfluss schwere Straftaten zu begehen", meint Wagner. Der junge Mann stand schon mehrfach vor Gericht: wegen exhibitionistischen Handlungen, Diebstahl, Hehlerei, Sachbeschädigung, Beleidigung, Körperverletzung. Er hat einen Förderschulabschluss, eine Ausbildung brach er ab. "Was haben Sie sonst gemacht mit Ihrem Leben?", fragt die Richterin. "Nichts" kommt kleinlaut zurück.

Ein psychiatrischer Gutachter spricht in Bezug auf den Täter von "auffälligen Charakterzügen". Der junge Mann habe dependente Züge und ein gestörtes Sozialverhalten. Er befürchte in der weiteren Entwicklung des 20-Jährigen eine Persönlichkeitsstörung. Die Tat sei auf diese Persönlichkeitsstruktur und den Einfluss der Drogen zurückzuführen. Der Sachverständige schätzte den Alkoholwert im Blut während der Tat auf um die drei Promille, auch sei Cannabis nachgewiesen worden. Der Gutachter meint mit Blick auf die vielen Vorfälle: Der Angeklagte "wurde immer dann aggressiv, wenn er unter Alkohol und Drogen stand".

Nun wird der Täter in einer Entziehungsanstalt untergebracht, er wurde nach Jugendstrafrecht verurteilt. Erleichterung über das Urteil zeigt er nicht. Wie während des ganzen Prozesses wirkt er seltsam gleichgültig. Nichts im Vergleich zu dem verzweifelten Menschen, der schluchzend am Telefon um Hilfe fleht. Das Urteil ist rechtskräftig.