Ein Denkmal an der Unfallstelle erinnert an die beim Müllwagen-Unfall getöteten fünf jungen Menschen. Foto: Fritsch

Auto von Laster begraben. Fünf Menschen kommen dabei ums Leben. Denkmal erinnert an Opfer. 

Nagold/Mötzingen - Es sind Sekunden, vielleicht sogar nur Sekundenbruchteile, die an diesem Tag im August 2017 über Leben und Tod entscheiden. Die unendliches Leid über Familien bringen, die Retter mit grausigen Bildern konfrontieren und die viele Menschen im ganzen Land erschaudern lassen.

Eine junge Familie bricht in den Mittagsstunden dieses angenehm warmen Freitags mit dem Auto von Mötzingen auf Richtung Nagold (Kreis Calw): eine 25-jährige Frau, ihr 22-jähriger Lebensgefährte, ihre zwei Kinder – eines zwei Jahre alt, das andere erst wenige Wochen – und die 17-jährige Schwester der Frau. Sie wollen das Kind zur Taufe anmelden, wird es später heißen. Die Fahrt zu ihrem Ziel ist nicht lang, kaum zehn Minuten unter normalen Umständen.

Etwa zur gleichen Zeit steigt ein 54 Jahre alter Mann ans Steuer eines tonnenschweren Müllfahrzeugs. Geladen hat es Altholz. Keine große Sache, diese Tour. Nur mit dem Fahrzeug kennt sich der Fahrer nicht so richtig aus.

Müllwagen begräbt Auto

Minuten später treffen das Auto und der Müllwagen aufeinander – an der Einmündung der Graf-Zeppelin-Straße in die Landesstraße 361. Der außer Kontrolle geratene Mülllaster kippt um – gerade in dem Moment als die junge Familie die Stelle passiert. Das 26 Tonnen schwere Fahrzeug zerquetscht das Auto. Fünf junge Menschen sind sofort tot. Den vielen an die Unfallstelle geeilten Rettern bleibt nur noch die grausige Aufgabe, die Toten aus dem nur noch einen halben Meter hohen Wrack zu bergen.

Genau ein Jahr ist dieses tragische Ereignis nun her, doch noch heute bewegen die Ereignisse dieses 11. August 2017 die Menschen in Nagold, in Mötzingen, wo die junge Familie wohnte, und weit darüber hinaus. Dutzende Grabkerzen auf dem Grabmal der fünf Getöteten auf dem Mötzinger Friedhof sind da nur ein Zeichen dafür.

Jeder Autofahrer, der die Stelle heute passiert, wird an die grausige Tragödie erinnert. Die Familien der Getöteten – beide stammen aus traditionsreichen Artistenfamilien – haben ein Denkmal mit blauen und rosanen Herzen an der Stelle errichtet, an der ihre Lieben ihr Leben verloren haben.

Sofort nach dem Unfall kommt – nicht nur bei den Angehörigen der Getöteten – die Frage nach dem "Warum" auf. Wie konnte das passieren? Wie konnte der Lastwagen umkippen und fünf junge Leben auslöschen?

Kein technischer Defekt

Noch an der Unfallstelle spricht der 54 Jahre alte Fahrer von technischen Problemen, die den Laster außer Kontrolle geraten ließen. Experten machen sich sofort an die Arbeit, um diese Aussage zu überprüfen. Mehr als drei Monate dauert es, bis der Gutachter seine Arbeit abgeschlossen hat. Sein Ergebnis ist eindeutig: Einen technischen Defekt hat es am Fahrzeug nicht gegeben. Die Staatsanwaltschaft Tübingen zieht ihre Konsequenzen, sieht ein Fehlverhalten des Fahrers als Ursache für die Tragödie und klagt den Mann wegen fahrlässiger Tötung in fünf Fällen an.

Sieben Monate nach den tragischen Ereignissen in Nagold beginnt am Landgericht Tübingen der Prozess gegen den Unglücksfahrer – unter großer Anteilnahme der Öffentlichkeit und natürlich der Familien der Getöteten. Nach nur drei Verhandlungstagen und 90 Minuten Beratungszeit spricht das Gericht unter dem Vorsitz von Mechthild Weinland das Urteil. Der Fahrer ist der fahrlässigen Tötung in fünf Fällen schuldig und wird zu einer einjährigen Bewährungsstrafe, einem Jahr Führerscheinentzug und einer Geldbuße von 1000 Euro verurteilt.

Kaum sind diese Worte gesprochen, erheben sich gut 20 Angehörige der Opfer und verlassen wortlos den Gerichtssaal. Draußen machen manche von ihnen ihrem Ärger und ihrem Unverständnis Luft: "Das Urteil ist lachhaft, es ist ein Witz", sagt einer von ihnen. Drinnen im Saal versucht sich das Gericht derweil eine Antwort auf die Frage nach dem "Warum" zu geben. Die Richter gehen davon aus, dass drei Fehler die Tragödie ausgelöst haben. Kurz vor dem Unfall habe der Fahrer seinen 26-jährigen Kollegen am Steuer des Lastwagens abgelöst – und das obwohl er sich nicht ausreichend mit der Bedienung des Fahrzeugs vertraut gemacht hat. Hätte er das getan, hätte sich der Unfall womöglich verhindern lassen, hätte der Fahrer womöglich einen weiteren folgenschweren Fehler nicht gemacht.

Eine Reihe von Fehlern

Denn auf der Gefällstrecke der Graf-Zeppelin-Straße in Richtung Landesstraße aktiviert er nach Überzeugung der Kammer nicht die Motorbremse, sondern den Tempomaten. Der Lastwagen hat zwei verschiedene Hebel – Motorbremse und Tempomat – an der Stelle, wo der gewöhnlich vom 55-Jährigen gefahrene Lkw nur einen Hebel hat, nämlich die Motorbremse. Der zweite Fehler. Die Folge: 50 Meter vor einer 90-Grad-Kurve beschleunigt der Lastwagen. Der Fahrer gerät nach Ansicht der Richter daraufhin in Panik, womöglich weil er schon einmal einen Mülllaster zum Umkippen gebracht hat. Die nach Aussagen des Gutachters voll funktionstüchtige Fußbremse bedient er nicht mehr. Fehler Nummer drei. Mit 51 Stundenkilometern und damit viel zu schnell fährt der Fahrer in die 90-Grad-Kurve, touchiert den Bordstein, gerät ins Schlingern. Der Fahrer steuert das zeitweilig auf nur zwei Rädern fahrende Fahrzeug nach rechts auf die Landesstraße, wo es kurz auf alle vier Räder kommt und dann umstürzt – genau auf das in diesem Moment herannahende Auto der jungen Familie.

Juristisch ist mit dem Urteil der Fall damit zwar abgeschlossen – noch vor Ort schließen Verteidiger und Opferanwalt eine Revision aus – aber für die Familien der Beteiligten dürfte er das auch ein Jahr nach den Ereignissen noch lange nicht sein. Wenn er sich menschlich überhaupt jemals abschließen lässt.