Man könnte meinen, dass über Marc Chagall schon alles gesagt wurde. Doch die neue Ausstellung in der Frankfurter Schirn bietet auch für jene Überraschendes, die den Maler bisher nicht mochten.
Jeder andere hätte Hochhäuser gemalt, riesige Straßenfluchten oder die Menschen, die ins Kino strömten oder sich in Bars vergnügten. Marc Chagall nicht. Als er sich 1941 mit seiner Frau in New York niederlässt, ist er zwar wie die meisten Europäer fasziniert von der amerikanischen Metropole, malen aber mag er diese schöne neue Welt nicht. Wenn Chagall vor der Leinwand sitzt, träumt er von dem, was er verloren hat, das beschauliche Leben auf dem Land. „Bei mir zu Hause“ nennt er denn auch ein Gemälde von 1943, das von einem Sein ohne Autos und leuchtende Werbung erzählt und auf dem der Mond friedlich auf zwei Liebende vor ihrem Häuschen schaut. Größer könnte der Kontrast zu New York kaum sein.
Freiwillig zog Chagall nicht nach Amerika, so, wie er sich eigentlich nie aus freiem Willen an immer neuen Orten niederließ. Als er 1923 Russland und seiner Heimat Adieu sagte, tat er dies nur, weil die Kommunisten die künstlerische Freiheit zunehmend einschränkten. Als die jüdische Familie 1941 Frankreich verließ, wollte sie den Nazis entkommen. Ein Schicksal, das so gar nicht zu passen scheint zu den lieblichen und unschuldig daherkommenden Motiven, die Chagall populär gemacht haben. Seine fröhlichen Bilder mit Tieren und romantischen Paaren, die oft wie im Traum am Himmel schweben, scheinen etwas anderes zu erzählen. „Welt in Aufruhr“ nennt sich dagegen die neue Ausstellung in der Frankfurter Schirn Kunsthalle, die eben erst begonnen hat und schon so gut besucht ist, dass kein Zweifel daran besteht, dass Marc Chagall bis heute ein Publikumsliebling ist. Die Schau ist aber auch bemerkenswert, weil sich die Kuratorin Ilka Voermann etwas traut, was in Kunstkreisen lange Zeit verpönt war: Sie rückt die Biografie Chagalls ins Zentrum und erzählt, wie die große Weltgeschichte nicht nur das Leben des Malers prägte, sondern auch seine Bilder.
In New York tröstet er sich mit Bildern seiner russischen Heimat
Ein kluger Schachzug, denn man kann sich schon fragen, warum Chagall, der sich in New York mit Henri Matisse trifft, mit Piet Mondrian und Fernand Léger, weiterhin seinen ganz eigenen, naiven Stil beibehält und keinerlei Einflüsse aufzunehmen scheint – und sich übrigens auch weigert, Englisch zu lernen. Stattdessen steht er am New Yorker Cranberry Lake – und malt symbolische Bilder, auf denen er ebenso zu sehen ist wie ein putziges Haus, in dem die Frau in der Eingangstür steht und auf ihren Mann wartet. Das sind Motive, die Chagall von seiner Heimat, dem heutigen Witebsk, konserviert hat und zum Trost zu malen scheint.
Die Ausstellung in der Frankfurter Schirn beginnt in den 1930er Jahren, als Chagall bereits ein gefragter Künstler ist und von Paris aus nach Jerusalem und Vilnius reist und Motive aufgreift, die in Zusammenhang mit dem Judentum stehen – wie das Opfer Abrahams oder Moses, der die Gesetzestafel empfängt. Wenn er auf dem Gemälde „Moses breitet die Finsternis aus“ (1931) kleine Menschlein malt, die panisch die Arme recken, und Tiere, die tot umgefallen sind, versteht man, dass es diese einfachen, erzählerischen Momente sind, die ihn so populär gemacht haben. Wenn er einen Mann mit Thora, Engel und Ochse malt und das Bild „Einsamkeit“ nennt, ist das eben auch ein Symbol für die Lage des Judentums in einer antisemitischen Welt. In späteren Jahren finden sich auch immer wieder in seinen Bildern Kreuzigungsszenen, wobei Christus bei ihm einen jüdischen Gebetsschal und Gebetsriemen trägt.
Auch nach dem Umzug nach Amerika ist diese alte Welt präsent. Gleichzeitig steht Chagall mitten im Leben und erhält Aufträge als Bühnen- und Kostümbildner fürs Ballett. In der Frankfurter Ausstellung kann man sogar einige seiner Kostüme im Original sehen. Es könnte also vorwärts für ihn gehen, doch 1944 stirbt seine Frau Bella an einer Virusinfektion. Fortan stellt er sich häufig janusköpfig dar: Er blickt in Richtung Zukunft, Bellas Gesicht dagegen ins Gestern. Nach Kriegsende zögert er lange, wieder nach Europa zu ziehen, weil er Bella nicht in ihrem Grab zurückzulassen will.
Die Schau bietet einen neuen Blick auf Chagall, zeigt sogar Ballettkostüme
Die Frankfurter Ausstellung konzentriert sich auf einen kleinen Ausschnitt aus dem langen und wechselhaften Leben Chagalls, der immerhin 97 Jahre alt wurde, dreimal geheiratet hat und zahllose Male umgezogen ist. Aber das Konzept, das Werk im Spiegel des Nationalsozialismus zu betrachten, eröffnet neue Einblicke in diese Bilder, die so vielfach reproduziert wurden und so selbstverständlich im kollektiven Bilderschatz verankert sind, dass man meint, sie zu kennen, und sie deshalb womöglich gar nicht mehr richtig anschauen kann. In der Schirn aber bietet sich ein erfrischend neuer Blick – und könnte sogar jene berühren, die bisher wenig mit Chagalls Malerei anfangen konnten. Denn so einfach die Symbolik, so düster klingt plötzlich die Botschaft, wenn man weiß, dass der kitschige Bräutigam mit buntem Blumenstrauß Chagall ist, der seiner verstorbenen Frau nachtrauert.
Ausstellung „Welt in Aufruhr“ Schirn Kunsthalle Frankfurt, Römerberg, bis 19. Februar, geöffnet Dienstag bis Sonntag 10-19, Mittwoch und Donnerstag bis 22 Uhr. Für die Ausstellung benötigt man ein Zeitticket, das vorab gebucht werden muss.