Kreis Rottweil - Der medizinische Betrieb ist von der Pandemie auf dem falschen Fuß erwischt worden. So fehlt es - immer noch - an Schutzausrüstung. Der Sprecher der Kreisärzteschaft, Jochen Scherler, fordert zudem Notfallstellen als Versorgungszentren für minder schwere Krankheitsfälle.

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Das Coronavirus grassiert und greift auch im Kreis Rottweil immer stärker um sich. Die Fallzahlen sind in den vergangenen Tagen enorm gestiegen. Sie haben sich vervielfacht. Stand Freitagabend weist der Kreis Rottweil 98 infizierte Personen auf. Auf weiter exponentiell steigende Fallzahlen müsse man sich gefasst machen, sagt Jochen Scherler, der Vorsitzende der Kreisärzteschaft, im Gespräch mit dem Schwarzwälder Boten. Die heutigen Zahlen spiegelten bestenfalls den Stand von vor fünf Tagen wider.

Gehandelt wurde in all den Jahren nicht

Obwohl seit Monaten bekannt ist, dass mit der Coronavirus-Pandemie das Gesundheitssystem vor eine enorme Herausforderung gestellt wird, fehlt es hinten und vorne an Material. Es gibt zu wenig Testmaterial, zu wenig Schutzmasken und zu wenig Schutzkleidung für das medizinische Personal in Kliniken, Praxen und Seniorenheimen. Das behindere die Arbeit des Personals massiv. Daher war es richtig, so Scherler, dass auf Kreisebene ein Corona-Testzentrum für Verdachtsfälle eingerichtet worden sei. Dort werden von 14 bis 20 Uhr Proben entnommen. Das Zentrum würde die niedergelassenen Ärzte entlasten.

Man hätte es besser wissen können, ja sogar besser müssen. 2012 ist eine Katastrophenschutzübung abgehalten worden. Die entsprechenden Szenarien seien durchgespielt worden, so Scherler. Es war klar, dass eine entsprechende Schutzausrüstung notwendig sein würde. Gehandelt wurde in all den Jahren nicht. Nun fehlt die Schutzausrüstung für Ärzte und Personal. Da die Produkte zumeist aus China bezogen werden , ist nachvollziehbar, warum es keinen Nachschub gibt. "Es hat einfach niemand daran gedacht", so Scherler.

Zusätzliche Schutzausrüstung im Kreis angekommen

Scherler nennt es ein Drama. Die Landesärztekammer und die Kassenärztliche Vereinigung hätten vor geraumer Zeit zugesagt, entsprechende Ausrüstung zu besorgen. Scherler selbst hat vor drei Wochen über persönliche Kontakte 50 Masken und Schutzmäntel aus Freiburg erhalten. Passiert ist erst einmal nichts. Am Freitagnachmittag dann vermeldet das Landratsamt: "Nach langem Warten ist jetzt im Landkreis Rottweil endlich zusätzliche Schutzausrüstung angekommen. Das Land hat dem Landkreis 1000 MNS-Masken (Mund-Nasenschutz), 2500 FFP2-Masken sowie 5000 Einmalhandschuhe (entspricht 2500 Paar) geliefert." Dennoch reiche das Material in keinster Weise aus, um die Kliniken und Altenpflegeeinrichtungen im Landkreis zufriedenstellend und auf längere Zeit mit Schutzmaterialien auszustatten, heißt es. "Es muss dringlichst zeitnah weiterer Nachschub vom Land kommen", äußert der Erste Landesbeamte Hermann Kopp.

Den Vorwurf verschiedener Stellen an die Kreisbehörde und das Gesundheitsamt, es werde im Vergleich zu anderen Kreisen zu wenig getestet, teilt Scherler nicht. Es komme nicht auf die Menge an, sondern auf die Qualität der Befunde. Es gehe darum, die kranken Menschen zu erkennen und herauszufiltern.

"Ein Dilemma"

Die Maßgabe, wer wann auf eine Coronavirusinfektion hin untersucht würde, würde vorgegeben und sei sinnvoll. Getestet werden solle, wer stärkere Symptome habe und unter Atemnot leide.

Das medizinische Personal wiederum könne auch noch bei leichten Symptomen eingesetzt werden. Indes nur mit entsprechender Schutzkleidung. Und dieses fehle ja. "Ein Dilemma", so Scherler.

Einerseits wird den Angaben des Vorsitzenden der Kreisärzteschaft zufolge ausreichend getestet, andererseits ist es so, dass die Labore, die die Proben für das Gesundheitsamt untersuchen, Kapazitäten vorgeben. Laut Scherler habe das Labor Gärtner in Ravensburg - es ist eines von zwei Einrichtungen, auf die der Landkreis zurückgreift - mitgeteilt, es könne nicht mehr als 50 Teste, nach Schweregrad vorsortiert, täglich für den Kreis Rottweil auswerten.

Vorbereitung in Krankenhäusern sehr gut

Zum Vergleich: Der Zollernalbkreis kann inzwischen auf ein vor Kurzem gegründetes medizinisches Labor in Balingen-Endingen, das ZakLab, zurückgreifen. Dort können täglich 200 Befunde erstellt werden. Ein weiterer Vergleich: Im Zollernalbkreis wurden bis Donnerstag insgesamt 1800 Abstriche vorgenommen, in Rottweil in toto 600, in Freudenstadt sind es 400 - täglich.

Anderes Thema: Der Stand der Vorbereitung in den Krankenhäusern in Oberndorf und Rottweil. Diese bewertet Scherler als sehr gut. Dort habe man früh angefangen, sich des Ernstfalls anzunehmen. Dennoch fordert der Mediziner den Aufbau zentraler Einrichtungen für Patienten mit weniger gravierendem Krankheitsverlauf. Schon allein, um die beiden Kliniken im Kreis zu entlasten. Denn diese sollten sich um die schweren Fälle kümmern.

Altes Spital und ehemaliges Schramberger Krankenhaus kämen infrage

Es sei davon auszugehen, dass unter den Erkrankten fünf Prozent intensiv medizinisch betreut und gepflegt werden müssten - in den Krankenhäusern. 15 Prozent der leichter Erkrankten könnten in den zentralen Einrichtungen behandelt werden. Wo das sein könnte? Scherler denkt für den Bereich Rottweil an das Alte Spital. In Schramberg könnte das ehemalige Krankenhaus für eine Reaktivierung infrage kommen.

Scherler hält diese Einrichtungen für dringend, angelaufen sei in dieser Richtung indes noch nichts. Er wolle daher in der kommenden Woche mit den Zuständigen auf dem Landratsamt sprechen. Da müsse in der nächsten Woche etwas geschehen, so Scherler. Betrieben werden müssten die Einrichtungen von Hausärzten. Es sei davon auszugehen, dass in der Zeit die Praxen geschlossen werden müssten.

Reaktion: "So hält man die Zahlen unten"

Kreis Rottweil (cor) - Auf unsere kritische Berichterstattung zur Testhäufigkeit im Kreis Rottweil gibt es etliche Reaktionen. Eine davon ist beispielhaft: Ein Ehepaar aus dem Kreisgebiet berichtet, es sei mit starken Grippesymptomen zum Hausarzt gegangen. Der Mann hatte im Geschäft zuvor Kontakt zu Personen, die in Norditalien waren.

Der Hausarzt sah einen Test auf COVID-19 dringend angezeigt, faxte Überweisungsscheine an das Gesundheitsamt Rottweil und schickte das Paar vorsorglich in Quarantäne. "Nach zwei Tagen rief ein Frau vom Gesundheitsamt an und fragte nach den Symptomen. Wir hatten kaum Fieber. Das könne dann auch kein Corona sein, hieß es", berichtet der Mann. "Außerdem hätten wir keinen Kontakt zu einer bestätigt infizierten Person gehabt, ein Test sei also nicht notwendig." Für das Paar, das freiwillig in Quarantäne blieb, völlig unverständlich. "So hält man die Fallzahlen unten", sagen sie.

Klar ist: In einem Nachbarlandkreis wäre die Geschichte anders abgelaufen.

Kommentar: Die Lage droht zu entgleiten

Von Armin Schulz - Das Coronavirus ist sehr gemein. Es handelt auch so. Der Krankheitserreger hat die Verantwortlichen im Kreis Rottweil auf eine falsche Fährte gelockt. Und sie sind ihm gefolgt. Zunächst, als andernorts die Fallzahlen bereits nach oben gingen, blieb man im Kreisgebiet recht gelassen. Man fühlte sich sicher. Als befände man sich in einer Trutzburg. Oder auf einem anderen Stern.

Die äußeren Umstände gaben den Behörden recht: Erst gab es gar keine Erkrankten, dann nahm die Anzahl nur langsam zu. Landratsamt und Gesundheitsbehörde vermittelten den Eindruck, alles im Griff zu haben. Sie waren davon bestimmt auch überzeugt. Die Kontaktketten der Infizierten konnten nachvollzogen werden. Das ist wichtig, um die betroffenen Menschen isolieren und so die Ausbreitung eindämmen zu können. Betont wurde dabei immer auch, dass sich die Patienten außerhalb des Kreises angesteckt hätten. Und nicht in den Städten und Dörfern des Kreises. Innen hui, außen pfui. Unser Laden ist sauber, so die Botschaft.

Schon damals, vor gut zwei, drei Wochen, wurden Nachfragen zur Testhäufigkeit abgeklärt pariert. Die Strategie war geprägt von der Taktik, nichts überstürzen zu wollen. Eine ruhige Hand wurde der Pandemie entgegengestreckt. Vielleicht wäre schon damals ein agileres Handeln sinnvoll gewesen. Denn jetzt, das ist gewiss, hat die Viruswelle auch den Kreis Rottweil mit Wucht erreicht.

So eine Krise konnte niemand voraussehen. Und mit so einer Krise hat noch kein Landrat, kein Oberbürgermeister, kein Bürgermeister zu tun gehabt. Durchgespielt wurden die Szenarien dennoch. Vor acht Jahren wurde der Katastrophenfall geübt. Man wusste damals, was an Ausrüstung nötig sein würde, um in einer solchen außerordentlichen Lage operieren zu können.

Dass es nun an wichtiger Schutzausrüstung - Atemschutzmasken und Schutzbekleidung - landauf landab fehlt, ist ein Skandal. Skandalös ist auch die nicht ausreichende Kapazität an Testmaterialien und medizinischen Laboren. Unfassbar ist zudem, dass jeder Landkreis sein eigenes Ding dreht, als würde es sich jedes Mal um einen anderen Ernstfall handeln. So schauen wir von Rottweil aus verblüfft nach Freudenstadt und Balingen, wo die Frage der Testhäufigkeit anders beantwortet wird als in Rottweil. In diesen Landkreisen werden um ein Vielfaches mehr Proben entnommen und ausgewertet. Warum? Um auf der Grundlage einer gesicherten Datenbasis gezielt zu agieren. Während man so im Kreis Rottweil nur 50 Abstriche täglich allein schon aus Kapazitätsgründen an das Labor Gärtner in Ravensburg schicken darf, gibt es in Balingen ein Start-up, das die vierfache Menge bewältigen kann. Und während man sich in Balingen dem Ansturm von Coronavirus-Patienten wappnet und eine Kreissporthalle entsprechend ausrüstet, ist hier von solchen Bemühungen nichts bekannt. Nicht einmal der Vorsitzende der Kreisärzteschaft weiß etwas davon, will dieses Thema in der kommenden Woche forcieren.

Nein, die Bürger und wir haben nicht das Gefühl, dass die Verantwortlichen die Lage im Griff haben. Eher ist der Eindruck der, dass ihnen die Lage zu entgleiten droht. Dabei ist es nie zu spät, vom Stand-by- in den Betriebsmodus zu schalten. Aber das muss jetzt passieren.