Ein halbes Jahr ist der junge Ukrainer Pavlo nun schon in Deutschland. Foto: Thomas Fritsch

Das Atrium in Nagold beherbergt 93 ukrainische Flüchtlinge, davon 23 Menschen mit Beeinträchtigung. Zu ihnen gehört auch der 28-Jährige Ukrainer Pavlo, der im Rollstuhl sitzt.

Er sei nun schon ein halbes Jahr in Deutschland, erzählt Pavlo im Gespräch mit unserer Redaktion. In der Flüchtlingsunterkunft im Atrium, da, wo früher das Gertrud-Teufel-Seniorenzentrum war, lebe er bereits seit fünf Monaten. Zuvor habe er ein Monat in der zentralen Anlaufstelle für Flüchtlinge in Ellwangen verbracht.

 

Anna Weinbender, eine in Deutschland lebende Ukrainerin und Sprecherin des Arbeitskreises Ukraine Hilfe Nagold, muss während des Gespräches als Pavlos Dolmetscherin fungieren, da seine Deutschkenntnisse noch nicht ausreichen, um andere Fragen als ’Wie geht es dir’ zu beantworten. Doch er ist bereits dabei, das zu ändern. Einmal die Woche besucht er einen Deutschkurs, der von Ehrenamtlichen im Atrium gegeben wird.

Pavlos Geschichte

Der 28-Jährige stammt ursprünglich aus Mariupol. Das ist eine Stadt in der Oblast Donezk in der Ukraine, die vor Beginn des russischen Überfalls von 2022 rund 440 000 Einwohner hatte. Gemeinsam mit seiner Mutter und seinem Kater sei er nach Deutschland gereist, erzählt Pavlo. In der Ukraine habe er zudem noch Verwandtschaft.

Wo er am Tag des Kriegsausbruches gewesen ist, weiß Pavlo noch genau: „Ich war zu Hause. Ich habe geschlafen, bis ich aufgewacht bin durch das Klingeln meines Handys. An diesem Tag haben mich sehr viele angerufen, um zu sagen: ’der Krieg ist da’. Doch erst später, als ich die ersten Explosionen gehört habe, realisierte ich ’okay, der Krieg ist tatsächlich da’.“

Den ganzen weiten Weg von der Ukraine nach Nagold mitgereist: Pavlos Kater. Foto: Thomas Fritsch

Leben auf Pause gestellt

Während Anna Weinbender seine Antwort übersetzt, schaut Pavlo hinunter auf seine Hände, die er verschränkt in seinem Schoß liegen hat. Er macht einen ruhigen, gefestigten Eindruck. Doch manchmal gleiten seine Augen hinauf zur Decke und es ist, als wäre er in Gedanken sekundenlang woanders. „Ich vermisse das Zuhausegefühl. Nicht das Gefühl, seine eigenen vier Wände zu haben, sondern vielmehr das von Heimat, von Verbundenheit“, so Pavlo. „Im Großen und Ganzen ist das Leben hier aber schön und ruhig.“

Doch manchmal fast zu ruhig. „Es hat sich sehr viel freie Zeit ergeben“, sagt der 28-Jährige. „Dabei ist es sehr wichtig, Alltagsstrukturen zu haben.“ In seiner Heimat hatte er die; Pavlo ist gelernter Automechatroniker, der zudem auch „gerne Hardware zusammenschraubt“, wie er selbst sagt. Er lebte sportlich aktiv, so war er in der Ukraine Kugelstoßer. All das gehört jetzt erst einmal der Vergangenheit an. Sein Leben ist auf Pause gestellt worden. Die Zukunft: ungewiss.

Die Flüchtlingsunterkunft und die Helfer

„Die Menschen kommen hierher, mit nichts als einem einzigen Koffer dabei“, sagt Weinbender. „Das, was sie erlebt haben, hinterlässt Spuren. Doch es ist eben dieses Leid, das sie auch verbindet.“ Im Atrium gebe es regelmäßig Veranstaltungen für die Geflüchteten, erzählt sie. Dort können die Bewohner zusammenkommen und sich austauschen. So auch bei den Kaffeerunden, die monatlich stattfinden würden und jedes Mal ein anderes Motto haben.

Außerdem teilen sich die Bewohner der Unterkunft pro Stockwerk eine Gemeinschaftsküche. Zwischen zwei Zimmern liegt jeweils ein Badezimmer, das man ebenfalls gemeinsam benutzt. Die Zimmer sind klein, zweckmäßig eingerichtet, mit einem Bett, Regalen, einem Schrank. Manche der Geflüchteten teilen sich ihr Zimmer mit Familienangehörigen, wie auch Pavlo, der mit seiner Mutter zusammenwohnt. Zudem wurde für die Geflüchteten im Atrium eine Kleiderkammer eingerichtet, die zweimal wöchentlich von ehrenamtlichen Helfern betreut wird.

Die Kleiderkammer im Atrium. Foto: Thomas Fritsch

„Ich empfinde die Atmosphäre hier im Atrium als sehr angenehm“, sagt Tetyana Kruckau, die – genau wie Weinbender – vom Arbeitskreis Ukraine Hilfe Nagold ist. „Es gibt selten Unstimmigkeiten und schon gar keine Streits, die eskalieren.“ Dies kann auch Sebastian Porada bestätigen, der die Unterkunft leitet. Porada ist werktags jeden Tag bis 16 Uhr im Haus, zudem gibt es mit David Kusnadi noch einen Sozialarbeiter, der dreimal die Woche Sprechstunden im Atrium anbietet.

Der Ansprechpartner für alles

„Da kommen die Menschen mit sehr verschiedenen Anliegen zu mir, die quasi die ganze Breite des Lebens abdecken“, meint Kusnadi. Er sei „der Ansprechpartner für alles“. Aufgrund der Sprachbarrieren würden da schon auch mal Schwierigkeiten auftreten. „Neulich haben mich zwei Damen in den Waschraum gerufen und es hat ungefähr zehn Minuten gedauert, bis ich verstanden habe, dass sie das Wollprogramm gesucht haben“, erzählt der Sozialarbeiter und muss lachen.

Es sind große Herausforderungen, vor denen die Geflüchteten stehen – so viel lässt sich sicher sagen. Hals über Kopf aus dem Kriegsgebiet geflüchtet, finden sie sich nun in einem fremden Land wieder, dessen Sprache sie – noch – nicht beherrschen. Dazu kommt, dass nicht klar ist, ob und wann sie wieder zurück in ihre Heimat können. So auch Pavlo. „Ich fühle mich hier gut aufgenommen und willkommen“, sagt er. Aber: sein Zuhause, der Ort, den er mit Heimat verbindet – das ist zumindest im Moment wohl immer noch Mariupol.

Info: Flüchtlingsarbeit im Kreis Calw

Mehr als 2100 Ukrainer hat der Landkreis Calw seit Kriegsbeginn insgesamt aufgenommen, so Janina Dinkelaker vom Landratsamt Calw. Aktuell halten sich ungefähr 1900 Ukrainer im Landkreis auf. Es sei den Menschen vor Ort zu verdanken, dass die Unterbringung von über 2100 Flüchtlingen so geräuschlos über die Bühne gegangen sei, sagt Tobias Haußmann vom Landratsamt. Doch es sei nicht nur die Unterbringung, die den Landkreis beschäftige, sondern auch noch die nachgelagerten Themen wie ärztliche Versorgung, Kinder- und Schulbetreuung und Integration der Geflüchteten. All das würde eine wahnsinnige Herausforderung für den Landkreis und alle Beteiligten darstellen. „Bei der Flüchtlingsarbeit trifft Ehrenamt auf Hauptamt. Dass das reibungslos ineinander über läuft, ist sehr wichtig für die Flüchtlingsarbeit im Landkreis.“, stellt Haußmann klar.