Immer mehr Flüchtlinge schmuggeln sich in Lastwagen. Für manche bedeutet das tagelange Gefangenschaft in einem Gefrierschrank Foto: dpa

Eine Flucht, die in Afghanistan beginnt, endet in einem eiskalten Lkw auf dem Weg nach Plochingen.

Stuttgart/Esslingen - Es ist eine Tour wie immer. Als der 32 Jahre alte Lastwagenfahrer Serdar (Name geändert) sein Ziel erreicht, deutet nichts auf ein außergewöhnliches Ende hin. Fünf Tage zuvor hat er im serbischen Kraljevo seinen Sattelschlepper übernommen. Pressenteile soll er zu einer Firma nach Plochingen bringen. Der serbische Zoll verplombt die Ladung. Nach drei Tagen erreicht der Fernfahrer den Stuttgarter Flughafen. Er stellt seinen Lkw in der Nähe übers Wochenende ab und liefert pünktlich am Montagmorgen. Die Plombe ist unbeschädigt.

Es ist eiskalt an diesem Tag vor zwei Wochen, deshalb steuert der Fahrer seinen Sattelschlepper zum Entladen rückwärts in eine Halle der Firma. Die Mitarbeiter helfen beim Öffnen. „Plötzlich war er da“, erinnert sich einer von ihnen. Ein junger Mann mit dunklen Augen und schwarzem Bart kauert vor ihnen. Er trägt nur dünne Schuhe und eine leichte Jacke. Neben ihm liegt ein Plastikbeutel mit einer eingefrorenen Wasserflasche. Lkw-Fahrer Serdar ist geschockt, den Tränen nah. Ihm wird schlagartig klar: Er hat den blinden Passagier fünf Tage lang durch halb Europa gefahren. Bei zweistelligen Minusgraden. Gefangen im Gefrierschrank.

Durchs Gebüsch über die Grenze

Die Mitarbeiter der Firma stützen den Mann, der weder Deutsch noch Englisch spricht. Alleine gehen kann er nicht: Beide Füße sind erfroren. Dennoch wirkt er erleichtert, als er das Wort Deutschland hört. Die Männer bringen ihm Essen und Kaffee, bevor sie Polizei und Rettungswagen rufen. „Der Mann hat eine halbe Weltreise gemacht bei dieser Kälte“, sagt einer von ihnen, „wir fragen uns, wie er das überhaupt überlebt hat.“

Einige Tage später im Esslinger Krankenhaus. Ein nüchternes Klinikzimmer mit Blick auf verschneite Hügel ist die erste deutsche Adresse des jungen Mannes mit den dunklen Augen und dem schwarzen Bart. Er kommt aus Afghanistan. Amanula heiße er, sagt er, und sei 22 Jahre alt. Ein Dolmetscher übersetzt mit Mühe. Amanula spricht Paschtu in einer Form, die auch für ihn nicht leicht zu verstehen ist. „Taliban“. sagt der schüchterne junge Mann nur auf die Frage, warum er geflohen sei. Deren Macht ist in seinem Dorf in der Provinz Lugar nahe der Hauptstadt Kabul so bedrohlich geworden, dass er seine Mutter, die drei Schwestern und den kleinen Bruder zurückließ. Das war vor einem Jahr.

7000 Kilometer hat der Flüchtling seitdem zurückgelegt. Im Iran gab er einem Lkw-Fahrer Geld, das er vorher mühsam verdient hatte. Dafür setzte der ihn in den Bergen an der türkischen Grenze ab. Zu Fuß ging es weiter und bis nach Griechenland. Mazedonien, Serbien. Dort fragte er sich durch, bis er von einem Lastwagen hörte, der nach Deutschland fahren sollte. Unbemerkt vom Fahrer, schlich er sich hinein. Manchmal war er allein auf seiner langen Reise um die halbe Welt, manchmal begleiteten ihn andere Flüchtlinge. „Um über die Grenzen zu kommen, sind wir immer nachts durchs Gebüsch gekrochen“, erzählt Amanula und schaut auf seine Füße. Die stecken in dicken Verbänden und tragen ihn jetzt keinen Schritt mehr.

Der Neuanfang steht unter keinem guten Stern

Die Geschichte, die der Afghane erzählt, wirkt unglaublich – und doch steht sie exemplarisch für Tausende Flüchtlinge aus vielen Ländern. Sie versuchen, auf allen möglichen Wegen nach Europa zu kommen. Auf Booten, in Lastwagen, mit kriminellen Schleppern oder auf eigene Faust. Nicht wenige sterben dabei. Nur zwei Wochen vor dem Fund in der Plochinger Firma haben Mitarbeiter des Zollamts im nahen Winnenden zwei Männer aus Bangladesch und einen aus Pakistan in einem Sattelzug aus Griechenland gefunden. Sie haben die Fahrt unbeschadet überstanden.

Seit einigen Jahren steigen die Zahlen der Asylbewerber wieder. 5300 Menschen hat allein Baden-Württemberg im vergangenen Jahr aufgenommen. Der Irak, Pakistan und Afghanistan führen die Rangliste an. Dabei versuchen immer mehr Flüchtlinge, auf illegalem Weg ins Land zu kommen. Während im Jahr 2007 aus diesem Grund noch 51 Menschen in Baden-Württemberg aufgegriffen wurden, waren es 2011 bereits 188, im Jahr 2010 sogar 332. „Wie viele Leute tatsächlich auf diese Weise einreisen, kann man nicht sagen“, weiß Fatih Ekinci vom Integrationsministerium. Manche bleiben unentdeckt.

Auf die, die wie Amanula erwischt werden, wartet das übliche Prozedere. „Zunächst wird die Ausländerbehörde informiert“, sagt Peter Zaar vom Regierungspräsidium Stuttgart. Die prüft die Rahmenbedingungen. Oftmals müssen illegal Eingereiste zurück in ihre Heimat. Es sei denn, es liegen ernsthafte „Ausreise- oder Abschiebehindernisse“ vor. Die können in einer Erkrankung des Flüchtlings begründet sein. Oder in der Situation im Herkunftsland.

Die Ärzte wollen Amanulas Füße amputieren

„Wer aus Afghanistan kommt, hat derzeit gute Aussichten, bleiben zu dürfen“, sagt Werner Baumgarten. Der Stuttgarter Asylpfarrer betreut seit Jahrzehnten Flüchtlinge aller Couleur und hat dabei viele Schicksale erlebt. „Manche haben schlimme Touren hinter sich“, weiß er und erzählt von einem Mann aus Sri Lanka. Der gelangte in ein Flugzeug von Colombo nach Mailand, versteckte sich dort und schlug sich von Italien nach Deutschland durch.

Die Situation der illegalen Flüchtlinge müsste laut Baumgarten nicht so trostlos bleiben, wie sie derzeit ist. „Trotz des Anstiegs sind das in nackten Zahlen nicht viele“, sagt er, „wenn der politische Wille da wäre, könnte man mit solchen Leuten anders umgehen.“ Seine Vorstellung: Die EU-Länder müssten eine Regelung über die Lastenverteilung finden, einen Schlüssel, der Flüchtlinge gezielt verteilt. „Wer etwa in Malta ankommt, könnte dann umgehend dorthin gebracht werden, wo Kapazitäten frei sind.“

„Ich will Asyl beantragen und in Deutschland bleiben“, sagt Amanula im Esslinger Krankenbett. Seine Chancen darauf stehen wohl nicht schlecht. Bis dahin übernimmt das Landratsamt die Behandlungskosten. Doch der Neuanfang steht unter keinem guten Stern. Die Ärzte wollen Amanulas Füße abnehmen. Das Gewebe ist so zerstört, dass es droht, den Körper zu vergiften. Noch wehrt sich der junge Mann mit den dunklen Augen und dem schwarzen Bart gegen diese bittere Wahrheit. Doch die eisigen Tage im Lastwagen werden ihn einholen.