Muss kein Chef-Diplomat mehr sein und nimmt kein Blatt vor den Mund: Klaus Kinkel, Außenminister von 1992 bis 1998. Foto: Eyrich

Ex-Außenminister findet 28 Jahre nach Wiedervereinigung mahnende Worte. "Mit Geschenken sorgsam umgehen."

Albstadt-Margrethausen - Nicht nur aus dem Nähkästchen der Wiedervereinigungszeit hat Klaus Kinkel am Mittwoch im Kloster Margrethausen erzählt, sondern auch mahnende Worte gefunden: darüber, was 28 Jahre nach der Einheit in Deutschland passiert.

Mit bald 82 Jahren könnte Bundesaußenminister a. D. Klaus Kinkel eigentlich den Elder Statesman geben und nach dem Besuch am Grab seiner Eltern, begleitet vom CDU-Bundestagsabgeordneten und Staatssekretär Thomas Bareiß, das Fest im Kloster Margrethausen zum Tag der Deutschen Einheit genießen, zu dem der CDU-Stadtverband Albstadt und der Kreisverband Zollernalb eingeladen haben. Doch der FDP-Mann, der so viel zur Gestaltung der Wiedervereinigung beigetragen hat, will nicht nur berichten, was sich vor 28 Jahren hinter den Kulissen abgespielt hat. Er will nicht nur Anekdoten seiner jungen Jahre in Hechingen, vom Praktikum im Balinger Krankenhaus, wo er Männerbäuche rasierte, und vom juristischen Referendariat beim Balinger Amtsrichter zum Besten geben.

Klaus Kinkel treibt Sorge um: Die Sorge, dass die Deutschen gleichgültig werden gegenüber dem "großen Geschenk", das ihnen die Bürger der DDR 1989 gemacht hätten. "Sie haben damals zurecht gerufen: ›Wir sind das Volk‹", sagt Kinkel, und fügt laut, trotz leichter Heiserkeit, hinzu: "Jene, die das heute auf den Straßen skandieren, sind es nicht!"

Dann schnürt er doch das Nähkästchen auf, gesteht, dass sie 1989 in Bonn "die Hosen gestrichen voll" gehabt hätten: "Hätte Michail Gorbatschow die Kasernen geöffnet, wäre es das gewesen mit der Wiedervereinigung!" Als Staatssekretär im Bundesjustizministerium habe er am 3. Oktober 1990 im DDR-Justizministerium "im wahrsten Sinne das Licht ausgemacht", viele entlassen müssen, die für die Justiz des sozialistischen Regimes gearbeitet hatten. Er erzählt von vielen Jahren an der Seite des damaligen Bundesaußenministers Hans-Dietrich Genscher, der "wie ein Wahnsinniger" auf die Wiedervereinigung hingearbeitet habe, von den "arbeitsreichsten und bewegendsten" Jahren seines Lebens während der Ausgestaltung der Einheit – und von den "vielen Klugscheißern" hinterher. "Aber die Wiedervereinigung konnten wir eben nicht proben."

"Als größter Gewinner haben wir auch eine Verantwortung"

Wäre es nach ihm gegangen, dann wären die 220 Kilometer an Stasi-Akten 1990 vernichtet worden. Seine Befürchtung, ihr Inhalt könnte Keile in Familien und Freundschaften treiben, habe die Gauck-Behörde durch ihre Arbeit jedoch widerlegt – und durch die Aufarbeitung der Akten zur Versöhnung beigetragen.

Ausdrücklich betont Kinkel, dass Deutschland nach dem Ende des Eisernen Vorhangs in Europa der größte Gewinner sei – und dass darin eine große Verantwortung liege. Dass ausrechnet das katholisch geprägte Polen, das ebenfalls stark profitiert habe, "sich so wenig solidarisch zeigt" in der Flüchtlingsfrage, das ärgert den einstigen Chef-Diplomaten freilich ganz gewaltig – daraus macht er kein Hehl. Die Fliehkräfte in der EU, die nationalen Interessen, die stark zugenommen hätten, die unberechenbar gewordene Türkei und jener US-Präsident, den man ernst nehmen müsse, obwohl man ihn nicht ernst nehmen könne – all das macht Klaus Kinkel Sorgen, "denk’ ich an Europa in der Nacht". Noch auf dem Sterbebett, so erzählt er, hätten Genscher und der Kanzler der Einheit, Helmut Kohl, ihn gebeten, mitzuhelfen, "dass das Verhältnis zu Russland wieder besser wird" – tatsächlich sei dessen Präsident Wladimir Putin "im Augenblick noch der klügste und berechenbarste von denen", sagte er mit Blick auf Trump, Erdogan, Kim Jong Un und Co..

CDU-Stadtverbandschef Roland Tralmer und Thomas Bareiß geht es ähnlich: "1989 konnte ich mir nicht vorstellen, dass unsere gefestigte demokratische Ordnung in Frage gestellt würde", sagte Tralmer, und Bareiß mahnte: "Wir stehen an einem Punkt der Spaltung" – obwohl es 28 Jahre nach der Einheit keine großen Unterschiede mehr gebe zwischen Ost und West in Deutschland.

Ehe Martin Wäschle und Joe Mumm, die mit Piano und Posaune die Feier umrahmen, zum Schluss das "Lied der Deutschen" spielen, wird Kinkel noch einmal deutlich – und zwar nicht mit Blick auf die Hechinger Pralinen und die Albstadt-Mäusle, die Tralmer und Friedrich Pommerencke ihm überreichen. "Mit Geschenken sollte man sorgsam umgehen", sagt er. Und alle im übervollen Klostersaal wissen genau, was er meint.