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Nach dem Anschlag beim Boston-Marathon warnt der renommierte Terrorismusforscher Walter Laqueur davor, dass Terroristen in der nächsten Stufe der Eskalation schon bald Massenvernichtungswaffen einsetzen könnten. „Chemische und biologische Waffen werden in absehbarer Zeit einem größeren Kreis von Leuten zur Verfügung stehen.“

Stuttgart/Washington - Schon früh hat der Historiker Walter Laqueur gewarnt: Der Terror wird mehr und mehr zur Waffe des „kleinen Mannes“. Und auch eine seiner weiteren Vorhersagen ist schon dabei Realität zu werden: Weil spektakuläre Aktionen wie Flugzeugentführungen aufwendig und riskant seien, würden Anschläge gegen sogenannte weiche Ziele – Züge, Massenveranstaltungen – immer mehr zum Alltag. Sie seien einfacher durchzuführen und – zynisch gesprochen – viel billiger.

Doch im Gespräch mit unserer Zeitung warnt der Vater der Terrorismusforschung und Autor („Krieg dem Westen“) schon vor der nächsten Eskalationsstufe: Massenvernichtungswaffen. „Chemische und biologische Waffen werden in absehbarer Zeit einem größeren Kreis von Leuten zur Verfügung stehen“, sagt Laqueur. Gefahr drohe nicht in erster Linie von Atomwaffen. Die seien kompliziert. Eine Bedrohung gehe aber etwa von Giftgasen aus. „Das könnte in zehn Jahren so weit sein oder, wenn wir Glück haben, auch später.“ Die Herausforderung: „Wie ein demokratischer Staat dann Sicherheitsvorkehrungen treffen kann, das weiß man heute noch gar nicht.“

Trotzdem warnt der angesehene Forscher mit Blick auf den Anschlag von Boston auch vor Überreaktionen und voreiligen Schlussfolgerungen. Zu fast allen Aspekten „gibt es noch viele unklare Punkte“, betont der 91-Jährige. Das sei nicht die beste Grundlage, um politische Schlussfolgerungen zu ziehen.

Boston-Bomber keine erfahrenen Terroristen

Sein Urteil über das Verhalten der US- Sicherheitsbehörden in Boston fällt vernichtend aus. „Mit etwas Übertreibung würde ich sagen, glücklicherweise trafen da Amateure auf Amateure.“ So seien die Täter keine erfahrenen Terroristen gewesen. Doch die Reaktion der Behörden sei ebenfalls dilettantisch ausgefallen. Deren Hauptfehler in den Augen Laqueurs: „Zu lange ist gar nichts passiert. Und wenn lange nichts passiert, weiß man gar nicht, was man tun soll.“ Hauptgrund sei die Unerfahrenheit der Behörden gewesen. „Wenn solche Ereignisse häufiger passieren würden, dann wären auch die Sicherheitskräfte besser gewappnet.“

Nach Laqueurs Auffassung bemisst sich Erfolg oder Misserfolg eines Anschlags in der Logik der Täter – die längst nicht nur aus dem islamistischen Lager stammen – nicht so sehr nach der Zahl der Opfer, sondern danach, wie viel Angst und Schrecken man verbreiten und wie sehr das normale Leben gestört werden konnte. „Wenn eine Tat wie die in Boston dazu führt, dass das Leben für 24 Stunden zum Stillstand kommt, ist das nicht gut.“ Und es sei, wie sich herausstellte, auch überflüssig gewesen. Der zweite mutmaßliche Täter wurde letztlich per Zufall von einem aufmerksamen Bewohner außerhalb des total abgesperrten Bostoner Vorortes aufgespürt.

Trotzdem bestätigt Laqueur, dass Amerika auf den Anschlag von Boston relativ gelassen reagiert hat. So verfügte US-Präsident Barack Obama trotz rechter Forderungen, den mutmaßlichen Täter Dschochar Zarnajew nicht als „feindlichen Kämpfer“ vor ein Militärtribunal zu stellen. Der US- Staatsbürger soll vielmehr in einem rechtsstaatlichen Verfahren verurteilt werden. „Wir brauchen keine neuen Gesetze und Beschränkungen“, so Laqueur. „Unsere Gesellschaft ist verwundbar, aber ihre Selbstheilungskräfte sind noch stärker.“ Noch sollten die Gefahren nicht übertrieben werden.