Der Fall erschütterte im November 2014 die ganze Stadt: Eine gefühlte Ewigkeit prügelt und tritt ein Jugendlicher in der Hauptstraße auf sein Opfer, einen älteren Mann, ein. Jetzt wurde der Täter verurteilt. Foto:  Bits and Splits /Fotolia.com

Prozess: Jugendstrafe für gewalttätigen 20-Jährigen. Opfer leidet bis heute unter den Folgen.

Oberndorf - Der Fall erschütterte im November 2014 die ganze Stadt: Eine gefühlte Ewigkeit prügelt und tritt ein Jugendlicher in der Hauptstraße auf sein Opfer, einen älteren Mann, ein. Jetzt wurde der Täter verurteilt.

Als das Urteil fällt, ist Stefan G. (Name von der Redaktion geändert) so etwas wie Erleichterung anzusehen. Die ganze Hauptverhandlung über, mehr als sechs Stunden lang, hat der junge Mann regungslos auf der Anklagebank im Amtsgericht Rottweil gesessen, das Gesicht ohne jede Emotion.

Entgegen der Forderung der Staatsanwaltschaft muss der Angeklagte nicht ins Gefängnis – noch nicht. Zwei Jahre Jugendstrafe lautet das Urteil, allerdings mit einer sechsmonatigen Vorbewährung. Schafft es der 20-Jährige, die Auflagen – unter anderem Suchtberatung, Anti-Aggressionstraining und die Zahlung eines monatlichen symbolischen Entschädigungsbetrags an sein Opfer – zu erfüllen, wird auch die darauffolgende Strafe zur Bewährung ausgesetzt. "Andernfalls ist Adelsheim Ihr zukünftiger Aufenthaltsort", macht die Richterin unmissverständlich klar.

Das milde Urteil hat der junge Mann zwei Umständen zu verdanken: seiner verkorksten Kindheit und Jugend, die erhebliche Defizite in seiner Entwicklung nach sich zog, und der Tatsache, dass er in jener Nacht vor eineinhalb Jahren sein Opfer wohl nicht mit einem Bierkrug, sondern mit der Faust angegriffen hatte. Dadurch hat dieses zwar schwere, aber keine lebensgefährlichen Verletzungen davongetragen.

"Er könnte keiner Fliege was zuleide tun"

Es ist der 1. November 2014. Stefan G., damals 18 Jahre alt, und sein älterer Bruder wollen abends im "Krokodil" etwas trinken. In der Kneipe sitzt auch der 62-jährige Lothar N. (Name von der Redaktion geändert). Der Mann, ein städtischer Angestellter, ist in Oberndorf bekannt und beliebt. "Er könnte keiner Fliege was zuleide tun", berichtet seine Schwester später vor Gericht. Für den Angeklagten, der damals arbeitslos ist und seit Monaten in den Tag hineinlebt, ist N. ein willkommenes Opfer. Als die beiden Brüder zum Rauchen vor die Tür gehen, reißen sie dem älteren Mann ohne jeden Grund die Mütze vom Kopf, provozieren und demütigen ihn. "Warum tun Sie so etwas?", fragt die Richterin fassungslos. G. zuckt mit den Schultern; er weiß es selbst nicht. Der Bruder des Angeklagten wirft N. die Mütze schließlich vor die Füße. Anschließend gehen die Jugendlichen zurück in die Kneipe, als wäre nichts geschehen.

Wenig später macht Lothar N. sich auf den Heimweg. Bei Stefan G. brennen alle Sicherungen durch. "Ich war aus irgendeinem Grund wütend auf ihn", gibt er vor Gericht zu. Er folgt Lothar N., greift ihn vor der Optik Günther von hinten an und schmettert ihm die Faust mit einer derartigen Wucht ins Gesicht, dass er sich selbst einen Bruch im Mittelhandknochen zuzieht. Als N. zu Boden geht, prügelt und tritt der 18-Jährige noch so lange auf ihn ein, bis ein Zeuge dazwischen geht. Anschließend ergreift er zusammen mit seinem Bruder, der wohl nicht an der Tat beteiligt war, die Flucht. Einige junge Männer, die einen Teil des Geschehens mitbekommen haben, verständigen die Polizei und verfolgen die Brüder. Diese werden schließlich beim Mauser-Areal festgenommen, wobei Stefan G. einen der Beamten massiv beleidigt.

Lothar N. erleidet bei der Tat schwere Gesichtsverletzungen, eine Gehirnerschütterung und mehrere Rippenbrüche. Er wird eine Woche lang stationär im Krankenhaus behandelt. Bis heute traut er sich nachts nicht mehr alleine auf die Straße, leidet noch immer unter Schmerzen und großer Angst. Einer der Jugendlichen, die dem alten Mann helfen und den Krankenwagen rufen, ist so schockiert angesichts der Verletzungen, dass er in Tränen ausbricht: "Da war überall Blut. So etwas habe ich noch nie gesehen", berichtet er. DNA-Proben ergeben später: Es ist vor allem das Blut des Angeklagten. Er hatte sich an den Scherben des Bierkrugs verletzt, mit dem er bei der Attacke ausgeholt, sein Opfer aber wohl glücklicherweise nicht getroffen hatte.

Gestolpert und auf den Krug gefallen? Keiner glaubt ihm

Dass allein der Versuch reicht, ihn hinter Gitter zu bringen, weiß G. allerdings: In seiner Version beharrt er vor Gericht darauf, beim Überqueren der Straße gestolpert und auf den Krug gefallen zu sein, woraufhin dieser zerbrochen sei. Niemand glaubt ihm. Nicht nur dem Gericht stößt es sauer auf, dass der junge Mann bis heute keine Reue gezeigt, sich nicht beim Opfer entschuldigt hat, nicht einmal dann, als dieses ihm beim Prozess gegenübersitzt. Der ermittelnde Beamte kommentiert die Vernehmung in der Tatnacht mit den Worten: "In 35 Dienstjahren habe ich selten so eine Ignoranz erlebt."

Das Verhalten des jungen Mannes, sowohl zum damaligen Zeitpunkt als auch während des Prozesses, lässt das Jugendschöffengericht zu der Überzeugung gelangen, dass Stefan G. offensichtlich geistig unreif ist. Bereits im Alter von 16 Jahren begeht er erste Straftaten, wird mehrfach verurteilt. Wegen Bedrohung und Diebstahls erhält er im September 2014 eine zehnmonatige Bewährungsstrafe. Die Auflagen erfüllt er schleppend oder gar nicht, sein Bewährungshelfer spricht von "Trägheit und Gleichgültigkeit".

Erst seit Mitte des vergangenen Jahres schafft G. es aus eigener Kraft, sein Leben in halbwegs geordnete Bahnen zu lenken: Er reduziert seinen Alkoholkonsum, beginnt eine Ausbildung zum Maurer. Seine neue Freundin gibt ihm Halt. Er verspricht, dieses Mal alles richtig zu machen. Das jetzige Urteil sieht das Gericht deshalb als letzte Warnung: "Wir schicken Sie heute nichts ins Gefängnis, aber das war ’ne knappe Kiste", so die Richterin.