Die um 1935 entstandene Aufnahme aus der heutigen Calwer Straße zeigt, dass die NS-Zeit auch an Neuweiler nicht spurlos vorübergegangen ist. Foto: Archiv Schabert Foto: Schwarzwälder-Bote

Heimatgeschichte: Kinder polnischer Zwangsarbeiterinnen umgebracht / Arzt kann sich aus Haft freikaufen

Neuweiler (hms). Mäuschenstill war es während des Vortrags über die NS-Zeit im Oberen Wald von Hans Schabert vor 50 Zuhörern im gedrängt besetzten Museumsstüble beim heimatgeschichtlichen Frühschoppen des Schwarzwaldvereins (SWV).

Kirche beruft sich auf Rassengesetze

Bewegt berichtete anschließend Gottfried Weber von der Neuweiler Pfarrfamilie Schmälzle weiter, dass er unter medizinischer Begleitung seiner Mutter durch den jüdischen Arzt Eugen Marx das Licht der Welt erblickt habe. Die sechsköpfige Familie des beliebten Geistlichen musste während der NS-Zeit in die Schweiz emigrieren, weil die zum christlichen Glauben konvertierte Frau Jüdin war. Die vier Kinder fielen als Halbjuden unter die zeitweise von der Kirchenleitung strenger als von den staatlichen Stellen ausgelegten Rassengesetze.

Dem Beispiel, wie Marx nachts vors Neuweiler Arzthaus gelockt und zusammengeschlagen wurde, fügte ein Besucher aus Bad Teinach einen ähnlichen Überfall auf den Mediziner bei der Katharinenpläsier an. Die Arztfrau Carola Marx starb nach der Vertreibung aus Neuweiler 1934 an einer Krankheit in Köln. Ihre beiden in Nagold geborenen Töchter Ruth und Rosemarie wurden dort in ein jüdisches Kinderheim gebracht. Sie wurden im Alter von acht und elf Jahren 1942 bei Minsk von den Nazis ermordet.

Der Arzt konnte sich aus der Haft für 5000 Reichsmark freikaufen. Er emigrierte nach Shanghai. Nach dem Krieg baute er sich eine Existenz in den USA auf. Marx bestätigte 1947 in einem Schreiben an den Neuweiler Bürgermeister: "Fritz Hanselmann ... ist niemals Nationalsozialist gewesen." Andere Dokumente belegen, dass der größte Teil der Bevölkerung die Familien Schmälzle und Marx nicht anfeindete, sondern gerne behalten hätte. Hans Hanselmann, der frühere Kronenwirt, berichtete, wie nach dem Krieg bei seiner Familie Care-Pakete von Marx aus den USA eintrafen. Hanselmanns Mutter Marie war im Arzthaushalt tätig und Patin eines der ermordeten Kinder.

Ein Interview, das Forscher Norbert Weiss aus Hirsau 1983 mit ihr geführt hat, weist auf die Nazi-Gräuel hin, aber auch Aussagen, wonach aus der Bevölkerung ihr und dem Chauffeur des Arztes, Friedrich Burkhardt, durch die Tätigkeit und spätere Kontakte keine Nachteile entstanden sind.

Traurige Mienen begleiteten die Beschreibung des Schicksals zweier Kindern, die ihren Müttern weggenommen worden waren. Die beiden polnischen Frauen waren in Oberkollwangen und Gaugenwald als Zwangsarbeiterinnen eingesetzt. Die Kleinen kamen ins "Polenkinderheim" nach Aach. Dort starben sie wie elf weitere Säuglinge. Kaum einer wurde ein halbes Jahr alt.

Wie die Beziehung einer Deutschen mit einem polnischen Zwangsarbeiter ins KZ führen konnte, oder ein solcher aufgrund einer derartigen Beziehung umgebracht wurde, ergänzte Weiss mit Beispielen aus Bad Teinach.

Unbegreifliche Schreckensherrschaft

Begrüßt hatte die Besucher die Vize-Chefin des SWV, Marianne Noe. Sie berichtete in der Frage- und Gesprächsrunde, wie eine heute 75-Jährige, von ihrer Familie gepflegte, behinderte Tante als Kind mit Tabletten nach einer klinischen Untersuchung hatte umgebracht werden sollen. Der Hausarzt habe dies verhindert, indem er die Mutter auf die Wirkung hingewiesen hat. Es gab im Vortrag weitere Beispiele des Referenten aus der Zeit einer unbegreiflichen Schreckensherrschaft.