Viele Türken in Nagold sind nach Abstimmung verunsichert. "Türkei ist nicht Erdogan."

Nagold - Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat das Referendum am Sonntag mit 51 Prozent für sich entschieden. Hat sich die türkische Bevölkerung von der Demokratie abgewandt? In Deutschland stimmten sogar rund 63 Prozent der wahlberechtigten Türken für die Verfassungsänderung. In Nagold möchte sich dazu aber kaum jemand offen äußern – und das hat Gründe.

"Nicht alles ist schlecht, was Erdogan macht"

Die naheliegendste Anlaufstelle, um türkische Mitbürger in Nagold zu befragen, ist die Moschee der Ditib-Gemeinde in der Herrenberger Straße. "Diyanet Merkez Camii" steht über dem Eingang, das heißt: "Religiöse Zentralmoschee". Drinnen laufen fröhliche Kinder umher. "Worum geht es?", fragen die Erwachsenen. Um das Referendum in der Türkei. Blicke werden getauscht. "Sie können hier nicht einfach herkommen. Warum haben Sie keinen Termin gemacht?" Und weiter: "Ich rufe den Vorsitzenden an, vielleicht sagt er was. Ob das heute noch reicht, weiß ich nicht", meint ein anderes Mitglied der Ditib-Gemeinde. Einige Zeit später meldet sich der Vorsitzende tatsächlich – aber selbst für eine kurze Stellungnahme hat er in diesem Moment keine Zeit.

Vielleicht sagt die Inhaberin eines Nagolder Geschäfts mehr. Sie bedient gerade einen Kunden, redet auf türkisch mit ihm. Ja, zum Referendum kann sie etwas sagen, meint sie, als er gegangen ist. Sie, die seit 1970 in Deutschland lebt, sei über das Ergebnis überrascht. "Ich hätte gedacht, dass Erdogan mehr Stimmen bekommt", erklärt sie. Es sei auch nicht alles schlecht, was er macht. Er führe das fort, was viele Politiker vor ihm schon versucht hätten, nur seien diese nicht so erfolgreich gewesen.

Dass die Welt so auf die Türkei schaue und dabei viele Aspekte aber nicht berücksichtige, stört sie. Denn: "Die Türkei ist nicht Erdogan", sagt sie. "Man sieht ja, wie knapp das Ergebnis war. Das Volk ist gespalten und das weiß Erdogan auch. Er muss seine Entscheidungen genau überdenken, sonst bringt er die Hälfte des Landes gegen sich auf."

Ihren Namen in der Zeitung lesen möchte die Frau allerdings nicht: "Wissen Sie, wir sind hier mit unserem Laden sowieso schon am Existenzminimum. Wenn ich etwas Falsches sage und das veröffentlicht wird, fehlen mir ein paar Kunden und dann?"

In einem anderen türkischen Geschäft bedient hinter der Theke ein Mann mittleren Alters. Freundlich und aufgeschlossen plaudert er mit einer Kundin. Doch als er wenig später "Presse", "Erdogan" und "Referendum" hört, blockt er ab: "Unser Chef kommt um 18 Uhr." Begrüßt er das Ergebnis? Ist Erdogan ein Gewinn für die Türkei? Kein Kommentar.

In der Türkei passt man sich lieber an

Nicht äußern wollen sich zunächst auch zwei befreundete Familienväter. Es sei denn, sie bleiben anonym. Es gebe in Deutschland derzeit viele "Spione" aus der Türkei und die beiden fürchteten etwaige Repressalien von Erdogan-Anhängern. "Wir gehen jedes Jahr zum Urlaub in die Türkei", hebt einer der beiden an. "Jetzt sind wir schon auf den Gedanken gekommen, nicht zu gehen." Man wisse einfach nicht, was nach dem Referendum passiere. "Die Leute, die gewählt haben, sind am Ende selbst schuld, wenn es in die eine oder in die andere Richtung geht." Damit spielt er auf religiös geprägte Vorschriften an. Zum Beispiel im Hinblick auf Verschleierung.

Auch ein Deutscher, dessen Eltern aus der Türkei eingewandert sind, gibt sich zuerst bedeckt. Seit zwei Jahren gehe er mit seiner Familie nicht mehr zum Urlaub in die Türkei. Zu seinen Kindern habe er gesagt: "Wenn um euch herum nur Erdogan-Anhänger sind, seid ihr auch Erdogan-Anhänger." Sie sollten sich in der Türkei anpassen, um nicht aufzufallen. Es gebe dort nämlich Fanatiker. Doch auch in Deutschland möchte er nicht sagen, wie er heißt.

Offen äußerte sich nur Adem Akkaya, Vorsitzender des Nagolder Jugendgemeinderats. Als deutscher Staatsbürger hat er die Wahl nur aus der Ferne beobachtet. "Das Ergebnis zeigt, dass die Türkei ein tief gespaltenes Land geworden ist", sagt er. Durch das Resultat werde die Gewaltenteilung geschwächt und in der Folge könne auch das Parlament künftig mühelos aufgelöst werden.

Insgesamt sieht er deshalb eine Schwächung der Rechtsstaatlichkeit in der Türkei: "Mich würde es nicht wundern, wenn viele Befürworter des Präsidialsystems nach einigen Jahren äußern, dass sie im April 2017 einen großen Fehler gemacht haben."