Weltmeisterschaft der Orientierungsläufer: Hirnforscher haben den menschlichen Orientierungssinn erforscht und dafür nun den Medizin-Nobelpreis erhalten Foto: KEYSTONE

Wer sich schon einmal verlaufen oder verfahren hat, schiebt es gern auf seinen angeblich schlechten Orientierungssinn. Doch woraus besteht dieser überhaupt? Das haben drei Hirnforscher versucht herauszufinden. Sie stießen dabei auf besondere Zellen im Kopf.

Stockholm - Die Küstenseeschwalbe fragt nie nach dem Weg: Bis zu 80 000 Kilometer fliegt sie pro Jahr – hinunter in den Süden und hoch in den Norden. Dabei verfliegt sie sich kein einziges Mal. Sie ist das Supertalent in Sachen Orientierung. Ganz im Gegensatz zum Menschen: Sein Gehirn muss sich gehörig anstrengen, damit er sich nicht verirrt. Der Seh- und der Hörsinn spielen eine Rolle, sowie das Gedächtnis und die Konzentrationsfähigkeit. Mit diesen Eindrücken bildet das menschliche Gehirn Landkarten seiner Umgebung ab.

Unzählige solcher mentalen Karten hat jeder Mensch im Kopf, genauer im Scheitellappen des Gehirns abgespeichert. Manche werden ganz unbewusst abgerufen: etwa auf dem Weg zur Arbeit oder zum Supermarkt um die Ecke. Experten nennen das egozentrische oder auch prozedurale Orientierung, denn sie läuft ohne äußere Impulse ab: Der Mensch, so scheint es, geht den Weg wie im Schlaf.

Besichtigt man aber eine fremde Stadt, orientiert man sich bewusst an äußeren Landmarken wie an räumlichen Anordnungen und Himmelsrichtungen. So merkt man sich etwa ein besonders hohes Haus oder ein bestimmtes Geschäft. Der Fachbegriff für diese Form der Orientierung heißt allozentrische Orientierung.

Wie das Gehirn die Fähigkeit der Orientierung meistert, das untersuchen Wissenschaftler seit Jahrzehnten. So haben Tierversuche gezeigt, dass es spezialisierte Gehirnzellen gibt, die die Umgebung erfassen. Die grundlegendsten Entdeckungen hierzu wurden von dem norwegischen Ehepaar May-Britt und Edvard Moser sowie dem britisch-amerikanischen Forscher John O’Keefe gemacht, wofür die drei Neurowissenschaftler am Montag vom Karolinska-Institut in Stockholm als Preisträger des Medizin-Nobelpreises 2014 benannt worden sind. Die höchste Auszeichnung für Mediziner ist mit acht Millionen Schwedischen Kronen dotiert, also fast 880 000 Euro.

Die Forschung selbst begann vor mehr als 40 Jahren: 1971 hatte John O’Keefe bei Ratten diese Orientierungszellen entdeckt – und zwar im Hippocampus, einer Gehirnregion in der sich das Gedächtnis befindet. Sie wurden immer dann aktiv, wenn sich eine Ratte in einem Labyrinth zurechtfinden sollte.

Befindet sich das Tier an einer bestimmten Position, feuern ganz bestimmte Kombinationen dieser Zellen – jedes Mal, wenn die Ratte diese Position erreicht. Jeder Ort ist also durch ein einzigartiges Feuerungsmuster codiert. O’Keefe schloss daraus, dass diese Zellen eine Art Karte des Raumes formen.

Mehr als drei Jahrzehnte später, im Jahr 2005, entdeckten May-Britt und Edvard Moser weitere Zellen im Hippocampus, die sie Rasterzellen nannten. Sie gaben immer nur an regelmäßig über die Fläche verteilten Knotenpunkten Impulse ab, die es nur im Kopf der Ratte gab. Diese Rasterzellen überziehen den Raum, ähnlich einem Koordinatensystem mit einem Muster aus virtuellen Dreiecken. Auch beim Menschen wurden solche Zellen inzwischen nachgewiesen. Welche genaue Aufgabe sie bei der Kartierung der Umgebung spielen, bleibt offen.

Klarer ist dagegen die Funktion eines weiteren Zellentyps, der von dem Ehepaar Moser 2008 entdeckt wurde: die sogenannten Grenzzellen. Beim Ratten-Experiment wurden sie dann aktiv, wenn sich das Tier in einer Sackgasse befand. Sie bedeuten also, sich einen anderen Weg suchen zu müssen. Und noch einen Faktor, der offenbar bei der Orientierung eine Rolle spielt, fand das Ehepaar Moser: die sogenannten Kopfausrichtungszellen. Sie arbeiten, wenn sich die Ratte an einem bestimmten Ort befindet und zugleich in eine bestimmte Richtung schaut.

Für das Nobelkomitee sind diese Erkenntnisse faszinierend: „Die Fähigkeit, zu wissen, wo wir sind, und unseren Weg zu finden, ist bedeutend für unserer Existenz“, heißt es seitens des Karolinska-Instituts. Wie John O’Keefe auf die Auszeichnung reagierte, ist nicht bekannt. Für das Ehepaar Moser kam die Entscheidung überraschend: Edvard Moser stieg in München gerade aus dem Flugzeug, als ihn die Nachricht erreichte. „Ich wusste nicht, dass heute der Tag ist, an dem der Nobelpreis bekannt gegeben wird.“ Seine Frau May-Britt war laut Nobelkomitee ebenso überrascht: „Ich bin immer noch baff. Das ist so großartig.“