Eine britische Erstpressung der Bowie-LP "The Rise and Fall of Ziggy Stardust and the Spiders from Mars" aus dem Jahr 1972 mit einer originalen Innenhülle, auf welcher neben David Bowie (von links oben im Uhrzeigersinn) auch die Mitglieder seiner Begleitband "The Spiders from Mars" abgebildet sind: Bassist Trevor Bolder, Gitarrist Mick Ronson und Schlagzeuger Mick Woodmansey Foto: Sammlung Gezener

Am 16. Juni 1972 erscheint eine Platte, die in der Welt der Rock- und Popmusik eine Zeitenwende einläutet: "The Rise and Fall of Ziggy Stardust and the Spiders from Mars", das fünfte Studioalbum von David Bowie. Zum 50. Jahrestag würdigen der Schwarzwälder Bote und Plattenläden aus ganz Baden-Württemberg ein unantastbares Meisterwerk eines echten Ausnahmekünstlers, dessen Spuren auch in den Schwarzwald und in den Zollernalbkreis führen.

Mit einem starren Blick schaut ein verletzter Soldat auf die Räder eines Cadillac, ein Polizist fällt auf die Knie und küsst die Füße eines Geistlichen. So oder so ähnlich müssen sich wohl junge Menschen fühlen, deren Welt von einer Krise in die nächste taumelt – in den frühen Siebzigern: Am 10. April 1970 verkündet Paul McCartney, dass er die Beatles verlässt, am 18. September 1970 stirbt Jimi Hendrix, nur 16 Tage nach ihm auch Janis Joplin, und am 3. Juli 1971 schließlich auch Jim Morrison von The Doors.

David Bowie trifft den Nerv der jungen Generation

Doch schon bald treten neue Musiker in den Vordergrund und füllen das in den frühen Siebzigern entstandene Vakuum in der Welt des Rock und Pop. Einer von ihnen ist der britische Musiker David Bowie, dem mit seinem am 16. Juni 1972 veröffentlichten fünften Studioalbum "The Rise and Fall of Ziggy Stardust and the Spiders from Mars" nach jahrelangem Bemühen der endgültige Durchbruch gelingt.

Dies dank seiner fiktiven Figur Ziggy Stardust – eine soziale Randgestalt, die über ausgezeichnetes Gitarrentalent verfügt und in einer dystopisch-verträumten Welt zum gefeierten Musikstar wird. Die eingangs beschriebenen Szenen aus dem Album-Opener "Five Years" treffen 1972 den Nerv der jungen Generation. Bowie steigt in der Folge nicht nur zum Superstar auf, sondern treibt auch die kulturelle Modernisierung der Rock- und Popmusik voran wie niemand vor und niemand nach ihm.

Bruch mit dem wertenden Schwarz-Weiß-Denken

In seinem Jubiläumsalbum bricht Bowie radikal mit dem wertenden Schwarz-Weiß-Denken, das in der westlich-abendländischen Kultur eine jahrhundertelange Tradition hat und im 20. Jahrhundert die Welt in zwei Weltkriege führt. Im Kern beruht das Schwarz-Weiß-Denken auf einer strikten Zweiteilung von Mensch und Tier.

In "The Rise and Fall of Ziggy Stardust and the Spiders from Mars" wird diese Dichotomie von Mensch und Tier etwa in der Proto-Punk-Nummer "Hang on to Yourself" aufgelöst, bei der man erfährt, dass die "Spiders from Mars" – Ziggy Stardusts Begleitband, die selbst den Namen eines Tieres, die der Spinne, im Bandnamen trägt – sich "wie Tiger auf Vaseline" bewegen. Noch deutlicher wird Bowie später auf seinem achten Studioalbum "Diamond Dogs" (1974), auf dessen Cover er als nacktes Mensch-Hund-Mischwesen posiert.

Intellekt und Emotion fließen ineinander über

Unmittelbar aus der Zweiteilung von Mensch und Tier hat sich in jahrhundertelangen Prozessen eine strikte Zweiteilung von Intellekt und Gefühl entwickelt, mit der Bowie in seinem Jubiläumsalbum ebenfalls bricht: Ist mit "Ziggy" ein im Englischen gebräuchlicher Kosename gemeint? Oder doch der Joint? Und was hat es mit dem Wort "Stardust" auf sich? Ist damit Staub aus dem Kosmos gemeint, oder vielleicht doch – wie im Jargon der Drogenszene gebräuchlich – Kokain? Und wann genau singt eigentlich Ziggy Stardust? Wann singen Ziggys Bandmitglieder? Und wann eine außenstehende Person?

Durchtränkt werden solche Denkprozesse von einer emotionalen Berg- und Talfahrt, die – wie im Song "Suffragette City" – penetrant-hemmungslose Gefühlsergüsse auslösen kann, oder einen – wie in "Soul Love" – in eine traumversunkene Schwebeschaukel-Schunkelstimmung versetzen kann, oder – wie im Track "Star" – einfach nur die Tanzfläche beben lassen kann.

Die binäre Geschlechterordnung wird in Frage gestellt

Unmittelbar aus der Dichotomie von Vernunft und Emotion hat sich im Laufe der Menschheitsgeschichte die binäre Geschlechterordnung entwickelt, mit der Bowie ebenfalls bricht, zum Beispiel in der Ballade "Lady Stardust": Da singt jemand namens Lady Stardust – scheint wohl kein wahrer Lady zu sein, oder vielleicht doch? – "seine Songs, die von Dunkelheit und Entsetzen handeln". Bowies teils falsettnahe Stimme und sein androgyner Kleidungsstil tragen das Übrige zur sexuellen Ambiguität bei.

Und so ebnet David Bowie den Weg für spätere Stars wie Freddie Mercury (Queen), Robert Smith (The Cure), Morrissey (The Smiths), Kurt Cobain (Nirvana), Michael Jackson und Prince, die wie Ziggy Stardust vom Idealbild des harten und emotionslosen Mannes abweichende Formen von Männlichkeit an den Tag legen.

Von Madonna bis Lady Gaga: Bowies Einfluss ist gewaltig

Durch seine androgyne Erscheinung erweitert Bowie aber nicht nur das Spektrum der Maskulinität, sondern auch das Spektrum der Weiblichkeit. Als Bowie 1996 in die Rock and Roll Hall of Fame aufgenommen wird, erzählt US-Pop-Queen Madonna, wie sie als Teenagerin, entgegen dem Willen ihres Vaters, mit einer etwa gleichaltrigen Begleitperson mitten in der Nacht aus dem Fenster springt, um zu einem Bowie-Konzert zu trampen. Sie kommt später "als eine andere Frau" nach Hause und wird von ihrem Vater zu Hausarrest verdonnert. Dem Spiegel gegenüber sagt Madonna 2008 über jenes Bowie-Konzert: "So etwas hatte ich noch nie gesehen und gehört, für ein Provinzmädchen wie mich war das alles einfach unvorstellbar aufregend. Nach jener Nacht habe ich das Leben und die Welt tatsächlich aus einer neuen, frischen Perspektive betrachtet."

Neben Madonna beeinflusst Bowie eine ganze Reihe weiterer Musikerinnen, so etwa Patti Smith, Grace Jones, Annie Lennox (Eurythmics) und Siouxsie Sioux (Siouxsie and the Banshees). Der Einfluss Bowies reicht weit bis ins 21. Jahrhundert: Lady Gaga sagt 2016, dass ihre gesamte Karriere als "Tribut an David Bowie" zu bezeichnen sei.

Ohrenfreundliche Musik und schrille Texte

Wie aber sieht das Erfolgsrezept aus, mit dem Bowie es schafft, die Grenze zwischen dem Vertrauten und dem Befremdlichen aufzulösen? Die ohrenfreundlich-eingängige Musik durchwebt Bowie mit schrill-subversiven Texten – wie etwa im Song "Starman", der quasi wie ein vertrautes Kinderlied klingt, aber durch den kosmisch-kryptischen Songtext schon etwas fremdartig wirken kann. Oder im Song "Suffragette City", wenn eine Person darüber jammert, dass ihr die Wirbelsäule herausgenommen worden sei und sie sich erst einmal das Gesicht zurechtbiegen müsse. Das hat was von Picasso!

Das Jubiläumsalbum löst ein musikalisches Erdbeben aus

Im August 1973, dem Todesjahr Pablo Picassos, hat Bowie mit "Hunky Dory" (1971), "The Rise and Fall of Ziggy Stardust and the Spiders from Mars" und "Aladdin Sane" (1973) gleichzeitig drei Alben in den Top 10 der britischen Album-Charts. Er bringt fortan ein Hit-Album nach dem anderen raus und reißt den Staudamm zwischen Subversivität und Mainstream ein. Bands wie die Sex Pistols, Joy Division, The Cure und The Smiths hätte es womöglich nie gegeben, wenn es Ziggy Stardust nie gegeben hätte.

In seinem Buch "David Bowie: The Golden Years" (2016) schreibt Roger Griffin, dass die britische Musikzeitschrift "Melody Maker" auf die Siebzigerjahre zurückblickend eine Liste erstellt hat, in der "die bedeutendsten und einflussreichsten Alben des Jahrzehnts aufgelistet wurden. ›The Rise and Fall of Ziggy Stardust and the Spiders from Mars‹ führte diese Liste an."

Von West-Berlin aus geht es manchmal in den Schwarzwald

Der Bowie der Siebziger: auf der Insel ein Mythos, in den Staaten eine Legende, im Westdeutschland der späten Siebzigerjahre ein Bewohner der Hauptstraße 155 im West-Berliner Stadtteil Schöneberg. Der große Durchbruch, der Bowie in Großbritannien, in den USA und anderswo gelingt, gelingt ihm während seines "goldenen Jahrzehnts" hierzulande nicht – und das, obwohl er ein paar Jahre in West-Berlin lebt, wo es ihm auch ganz gut gefällt.

Manchmal steigt er mit seiner Assistentin Coco Schwab und seinem Musikerkumpel Iggy Pop ins Auto, dann fahren die drei los – "in den Schwarzwald", wie Bowie 2001 dem britischen Musikmagazin Uncut verrät. Auf der Fahrt, die manchmal mehrere Tage dauern kann, halten die drei an jedem Ort an, der ihnen gerade ins Auge sticht, erzählt Bowie 2001 gegenüber Uncut.

David Bowie tritt 1996 beim SWF 3 Open Air in Balingen auf

Es sind aber nicht die einzigen Tage, an denen Bowies Weg in den Südwesten führt. In seiner rund 50-jährigen Karriere gibt er auch ein paar Konzerte in Baden-Württemberg. Unter anderem tritt er am Abend des 20. Juli 1996 als Headliner beim SWF 3 Open Air auf dem Messegelände in Balingen auf und schenkt dem Balinger Nachthimmel mit "Moonage Daydream" auch einen Song aus "The Rise and Fall of Ziggy Stardust and the Spiders from Mars".

20 Jahre nach Bowies Auftritt in Balingen schreibt Michael Spitzer, Professor an der Fakultät für Musik der Universität Liverpool, der einzigen Universität weltweit, an der man einen Masterabschluss im Studiengang "The Beatles" erwerben kann, als Fakultätsvorsitzender: "Bowie prägte seine Zeit wie kein anderer Musiker. Seine Errungenschaften in den Siebzigern gleichen in Sachen Innovation und Langzeiteinfluss denen der Beatles in den Sechzigern."

Künstler und Wissenschaftler ziehen Picasso-Vergleich

Andere gehen noch weiter, so etwa die von Warner Music betriebene Musik-Website "Dig!". Noch vor Pink Floyd (Platz 5), Led Zeppelin (Platz 4), Jimi Hendrix (Platz 3) und den Beatles (Platz 2) wählt "Dig!" im Jahr 2021 David Bowie zum einflussreichsten Künstler der Musikgeschichte. Dabei erringt Bowie, wie "Dig!" schreibt, "mühelos den ersten Platz unserer Liste der einflussreichsten Musiker aller Zeiten. Sein Einfluss wird noch für Generationen zu spüren sein."

Nile Rodgers, der als Musiker, Komponist und Produzent an diversen Welthits mitgewirkt hat, sagt im Februar dieses Jahres: "Ganz ehrlich. Ich werfe nicht einfach mit irgendwelchen Worten um mich, wenn ich sage: Für mich ist David Bowie der Picasso des Rock ’n’ Roll." Und auch Musikprofessor Michael Spitzer aus der Beatles-Stadt Liverpool bezeichnet Bowie als den "Picasso des Pop". Dass Rodgers vom "Picasso des Rock ’n’ Roll" und Spitzer vom "Picasso des Pop" spricht, liegt – wie sollte es auch anders sein? – daran, dass Bowie auch die Grenze zwischen Rock und Pop überwindet.

Das Rampenlicht tut Ziggy Stardust nicht gut

Wie Pablo Picasso und David Bowie kommt auch Ziggy Stardust ganz oben an, wird zum umjubelten Musikstar. Doch das Rampenlicht tut Ziggy nicht gut. Picasso soll einmal gesagt haben: "Erfolg ist gefährlich. Man beginnt sich selbst zu kopieren, und sich selbst zu kopieren ist gefährlicher als andere zu kopieren. Es führt zu Unfruchtbarkeit."

Während Picasso und Bowie immer wieder neue Wege gehen und sich in einer sich ständig wandelnden Welt immer wieder selbst neu erfinden, scheitert Ziggy Stardust gerade hieran. Anstatt sich künstlerisch neu zu erfinden, wird Ziggy Stardust in seiner Extravaganz selbst zum Mainstream, zu einem starren Konstrukt, zu einer Kategorie, zu einer Schublade – wie der Mensch, wie das Tier, wie der Mann, wie die Frau, wie Ziggy Stardust im Rampenlicht. Auf der Platte deutet sich Ziggy Stardusts Absturz spätestens mit dem Song "It Ain‘t Easy" an, als irgendjemand – wer könnte das sein? – vom Gipfel eines Berges auf die Dächer einer Stadt hinunterspringt, bevor der imposante Chorus einsetzt: "Es ist nicht einfach in den Himmel zu kommen, wenn du gerade dabei bist unterzugehen."

Die Freundschaft zwischen den Musikern zerbricht

Und so kommt es, wie es kommen soll: Die Freundschaft zwischen den "Spiders from Mars" und ihrem singenden Gitarrenspieler Ziggy Stardust zerbricht. Im Song "Ziggy Stardust" wird klar, dass die junge Generation Ziggy nichts mehr abgewinnen kann. Die Kinder machen kurzen Prozess und töten "den Mann" – gemeint ist damit wohl Ziggy Stardust, und irgendwo vielleicht ja auch das Patriarchat in höherem Sinne?

Doch damit endet das Album nicht. Spielt Bowie mit der Grenze zwischen Leben und Tod? Nachdem die Proto-Punk-Nummer "Suffragette City" den Plattenspieler an den Rand des Wahnsinns treibt, setzt der Song "Rock ’n’ Roll Suicide" den Schlusspunkt, der aber irgendwie auch keiner ist: Irgendjemand – wer könnte das sein? – fleht mit ausgestreckten Armen um Zuwendung und Erwiderung. Die Streicher gehen darauf lautstark ein und spielen einen Schlussakkord, von dem man nicht mit letzter Gewissheit sagen kann, ob er den Blick hinab in den gespaltenen Abgrund widerspiegelt, oder vielleicht doch den Blick hinauf zum sternenbedeckten Nachthimmel. So oder so ähnlich müssen sich wohl junge Menschen fühlen, wenn ihre Welt von einer Krise in die nächste taumelt.

Stimmen aus baden-württembergischen Plattenläden:

"Bowies fünftes Album und der Beginn einer Superstar-Karriere. Hat auch nach 50 Jahren keinerlei Rost angesetzt. ›Starman‹ bleibt groß!!!"

– Heinz Bross, Rimpo Tonträger, Tübingen

"Perfekte Songs, geniale Musiker, eine absolut gelungene Produktion – und dann natürlich die Erfindung des androgynen Wesens Ziggy Stardust, eine visionäre Idee, absolut anziehend, aber gleichzeitig Starkult und Massenphänomene hinterfragend. Eine Platte, die lange gewirkt hat, Glamrock, Punk und New Wave maßgeblich beeinflusst und heute noch so frisch und modern klingt, als wäre sie gestern erst erschienen."

– Michael Paukner, Second Hand Records, Stuttgart

"Das ›Ziggy-Album‹ setzte mit seinem Stilmix von Rock ’n’ Roll bis Artrock neue Akzente. Die androgyne Erscheinung des ›Marsianers‹ David Bowie ist bis heute eine Ikone, die auf Musik, Mode und Lebensstil ausstrahlt."

– Bernd Kammerer, Musikbox, Rottweil

"Bowie outet sich und eine ganze Generation. Bisexualität wird hip und erobert die Charts. Heute ist die Aufnahme relevanter denn je."

– Christian Treuter, Art Box Recordstore Ravensburg

"›Starman‹ ist für mich die Essenz der ersten fünf Bowie-Jahre. Ein Song für die Ewigkeit!"

– Moritz Schroeder, Mo’s Plattenladen, Karlsruhe

"Mit Hard-, Glam- und Artrock sowie Pop ist das Album musikalisch sehr vielseitig und die Songs ›Starman‹ und ›Ziggy Stardust‹ legendär!"

– Gunnar Frey, Soundservice, Villingen-Schwenningen

"›Ziggy Stardust‹ mit dem genialen Riff und ›Suffragette City‹ rau, laut und trotzdem mit einem tollen Surf-Swing sind die absoluten Glamrock-Hits des Albums."

– Jürgen Fischer, Ronnie’s Records, Heidelberg

"Einer der wandlungsfähigsten Musiker mit unfassbarer Schaffenskraft. Ziggy prägte bereits in jungen Jahren die Musikgeschichte gravierend. ›Blackstar‹ krönte Bowies Kreativität. Er ging viel zu früh."

– Gabriele Hartmann, Plattenladen Heilbronn

"Das für mich beste Bowie-Album, in dem er dem realen Wahnsinn am nächsten kommt – passend für eine Zeit, in der auch ›Uhrwerk Orange‹ erscheint."

– Steffen Schmid, Studio Eins Konstanz

"Ein grandioses Konzeptalbum, das durch seine musikalische Vielfalt und dem unterschiedlichem Kleiden Bowies aufzeigt, dass Offenheit, Multipolarität und Freiheit wichtig sind für interessantes Leben."

– Wolfgang Keck, ARBF, Ludwigsburg