Gleich passiert’s! Die stark sehbehinderte Heike T. knallt gegen ein Polizeifahrzeug. Zuweilen parken auch manche Beamte zu knapp am Blindenleitstreifen. Foto: Peter Michael Petsch

Mangelhafter Blindenleitstreifen trifft auf gedankenlose Passanten: Für Sehbehinderte mutiert das Blindenleitsystem in der Königstraße zuweilen zu einer gefährlichen Falle.

Stuttgart - Dass Heike T. (36) nicht mit dem Kopf gegen den Außenspiegel des Lieferwagens knallt, liegt an ihrem Auftrag: „Hindernislauf in der Königstraße“. Barrieren wie das knapp an der Blindenleitlinie abgestellte Fahrzeug bekommt sie vorher benannt, um Gedankenlosigkeit, Ahnungslosigkeit, fehlende Rücksichtnahme dokumentieren zu können, ohne sich dabei zu verletzen.

„Auch hier hätte ich keine Chance“, sagt Heike T. ein paar Meter weiter. Mit ihrem Stock hat sie sich entlang der in den Belag eingelassenen Rillen vorgetastet. Das Stockende am Boden hat ihr freie Bahn signalisiert. Denkste! Plötzlich spürt sie auf Kniehöhe die Kupplung eines abgestellten Anhängers. „Blaue Flecken und aufgestoßene Knie sind für mich fast schon normal“, sagt Heike T. Ohne Vorwarnung hier wäre beides unvermeidlich gewesen.

Heike T. ist nicht vollständig erblindet, aber sehr stark sehbehindert. Sie leidet am seltenen Wagner-Syndrom, einer Kombination mehrerer Handicaps. Neben grünem und grauem Star sowie einer hochgradigen Kurzsichtigkeit lösen sich bei ihr die Sehzellen auf. Heike T. und Sebastian Prins, ihr Trainer vom Sehbehindertenhilfswerk Nikolauspflege, haben sich bereiterklärt, mit den Stuttgarter Nachrichten die Königstraße auf Blindentauglichkeit hin zu überprüfen.

Auslöser dafür war die Zuschrift einer Leserin, in der sie sich bitter beklagt hatte. „Meine blinde Tochter prallte gegen ein Hindernis. Sie musste im Krankenhaus behandelt werden und leidet heute noch an Schmerzen am Kopf und an der Nase“, so ihr Bericht über einen Spaziergang ihrer Tochter auf Stuttgarts beliebter Einkaufsmeile.

Die Königstraße verfügt über ein sogenanntes Blindenleitsystem: in den Belag eingelassene Rillen in Straßenlängsrichtung, die Sehbehinderte mit Stock ertasten und die sie sicheren Fußes über die Einkaufsstraße führen sollen. Das Leitsystem wurde im Zuge der millionenteuren Belagsanierung vor der Fußball-WM 2006 angelegt. „Doch was nützt es, wenn gedankenlose Handwerker die Linien mit Maschinen und Lkw zustellen?“, schreibt unsere Leserin weiter.

„Gut gemeint, schlecht gemacht – das begegnet mir auf öffentlichen Wegen oft“, sagt dazu Heike T, in Teilen treffe das auch auf die Königstraße zu. Größtes Manko: Der Leitstreifen ist, weil farblich nicht vom üblichen Belag abgesetzt, für Sehende kaum zu erkennen, und wenn sie ihn doch wahrnehmen, wissen viele Passanten nicht, was es mit den Rillen in Wahrheit auf sich hat.

„Guck mal, was der Laster für Spuren in die Straße gemacht hat“, mutmaßt etwa ein Grundschüler, der mit seiner Klasse vorbeikommt. „Ist mir noch nie aufgefallen“, erklärt hingegen ein Handwerker entschuldigend. Heike T. hat ihn darauf aufmerksam gemacht, dass er auf den Rillen parkt und ihr auf diese Weise eine gefährliche Falle stellt.

Eine knappe Dreiviertelstunde sind wir unterwegs. Im Minutentakt trifft Heike T. auf ein Hindernis, unwissende oder gedankenlose Lieferanten bilden dabei nur einen Teil der Misere. In seiner baulichen Ausführung hat der Leitstreifen einige Mängel. So werden Sehbehinderte im großen Bogen an einer Sitzgruppe vorbeigeführt, mal biegt der Leitstreifen abrupt im 90-Grad-Winkel ab. „Für mich nicht logisch ersichtliche Richtungswechsel verwirren“, sagt Heike T. – sich mit dem Stock durch die Stadt zu bewegen erfordere ein hohes Maß an Konzentration, ergänzt Sebastian Prins. „Die Konzentration darf nie nachlassen, auch wenn man schon einen langen Tag hinter sich hat.“

Eine böse Falle stellt die Hajek-Skulptur vor dem Kunstmuseum dar: ist man mit dem Stock schon unten durch, stößt man sich den Kopf an der Eisenstrebe. Kaum zu glauben ist, was sich die Planer der Belagsanierung an der Bolzstraße ausgedacht haben. Zwei Zebrastreifen im Abstand von etwa zehn Metern ermöglichen Fußgängern den sicheren Übergang vom Schlossplatz in die untere Königstraße – der Blindenleitstreifen endet am Bordstein genau dazwischen.

Dass es anders geht, zeigt, wie die Stuttgarter Straßenbahnen AG (SSB) mit dem Thema umgeht: An den meisten Stadtbahnhaltestellen können Blinde und Sehbehinderte sogar die Stelle ertasten, von wo aus sie in den Zug gelangen – in der Regel halten die Fahrer exakt an der Markierung. „Die Zusammenarbeit läuft so, dass wir bei Bauarbeiten von den SSB um Anregungen gebeten oder bei Haltestellenverlegungen vorab informiert werden“, sagt Stefanie Krug von der Nikolauspflege.

Am Ende der Erkundungstour muss Heike T. feststellen, dass selbst Ordnungshüter zuweilen gedankenloser sind, als die Polizei erlaubt. Kurz vor dem Abgang zur Klett-Passage schrappt die junge Frau mit ihrem Stock an einem Streifenwagen, der auf dem Leitstreifen parkt. Muss das sein?