Hussein K. im Gerichtssaal des Landgerichtes in Freiburg. Foto: dpa

Wissenschaftlerin sagt vor Landgericht zu Alter aus. Verurteilung nach Erwachsenenstrafrecht?

Freiburg - Im Herbst 2015 kam er als angeblich minderjähriger Flüchtling nach Freiburg, im Februar 2016 ging Hussein K. zum Zahnarzt: Ihm wurde ein Eckzahn gezogen, der wohl über einen anderen Zahn drüber gewachsen war. Der Patient K. nahm den Zahn anschließend mit und bewahrte ihn auf.

Aus seiner Sicht eine Tatsache, die er heute wohl lieber ungeschehen machen würde. Denn dieser Zahn hat nun zu nahezu zu 100 Prozent sicher geklärt, dass Hussein K. schon lange kein heranwachsender Teenager mehr ist, sondern längst ein erwachsener Mann.

Für den Mordprozess, in dem er sich derzeit vor der Jugendkammer des Freiburger Landgerichts verantworten muss, ist diese Erkenntnis von entscheidender Bedeutung, da sie zur Folge hat, dass Hussein K. nach Erwachsenenstrafrecht verurteilt werden kann. Ihm wird vorgeworfen, in der Nacht zum 16. Oktober 2016 die damals 19 Jahre alte Medizinstudentin Maria L. in Freiburg auf dem Radweg an der Dreisam beim SC-Stadion von ihrem Rad gezerrt, vergewaltigt und getötet zu haben. K. hat die Tat gestanden und als Spontantat im Alkohol- und Drogenrausch dargestellt. Die Staatsanwaltschaft hingegen wirft ihm einen kaltblütigen Mord vor.

Nun also ist die lange ungeklärte Altersfrage in dem Prozess weitgehend geklärt: Wie die renommierte Freiburger Anthropologin Ursula Wittwer-Backofen am Dienstag in ihrem Gutachten darlegte, dürfte K. zur Tatzeit im Oktober vor einem Jahr um die 26 Jahre alt gewesen sein. Mindestens aber, so lässt sich aufgrund der gutachterlichen Daten nachrechnen, war er wohl 22 Jahre und acht Monate alt.

Diese Zahlen basieren auf einer Untersuchung der Wurzel des gezogenen Zahns, den die Polizei bei K. fand. Eine Analyse der Skelettentwicklung, der Scham- und Körperbehaarung des Angeklagten stützt der Gutachterin zufolge zudem die Erkenntnisse aus der Zahnanalyse: Diese hat unter Berücksichtigung einer dreifachen Standardabweichung von der Norm dieser Art von Untersuchungen ergeben, dass der Angeklagte zu 99,7 Prozent zwischen 22,05 und 29,5 Jahre alt war, als der Zahn im Februar 2016 gezogen wurde.

Fasst man die Berechnung enger und legt nur eine zweifache Standardabweichung zugrunde, so kommt heraus, dass der Angeklagte im Februar 2016 bereits 25,8 Jahre alt und somit lange schon kein Heranwachsender mehr war – plus/minus 2,5 Jahre. Hinweise auf Wachstums- oder Entwicklungsstörungen, die das Bild verfälschen oder verändern, habe man nicht vorgefunden.

Was nach einer Exkursion ins Mathebuch eines Statistik-Grundkurses klingt, beruht auf der Betrachtung sogenannter "Banden" aus Zahnzement. Diese legen sich, sobald ein Zahn im Kiefer eines Menschen durchgebrochen und sichtbar geworden ist, wie die Altersringe bei einem Baum mit jedem Jahr in hauchdünnen, nur unter dem Mikroskop erkennbaren Schichten um die Zahnwurzel. In der Anthropologie helfen sie den Wissenschaftlern zum Beispiel bei der Altersberechnung von historischen Skeletten. Im Gerichtssaal dagegen können sie nur seltener genutzt werden, da man fast nie einen gezogenen Zahn eines Angeklagten zur Untersuchung zur Hand hat.

Dass Hussein K. den Eckzahn nach dem Zahnarztbesuch aufbewahrt hat, ist für die Ermittler somit ein ausgesprochener Glücksfall. Denn: Die Zahnanalysen anhand der jährlichen "Altersringe" an der Zahnwurzel sind genauer als andere Untersuchungsmethoden zur Altersbestimmung. Zig Aufnahmen unter dem Mikroskop liegen der Zählung zugrunde, die von zwei Forschern unabhängig voneinander vorgenommen wird. Dass der untersuchte Zahn vom Angeklagten stammt, hat übrigens ebenfalls ein wissenschaftliches Gutachten bestätigt: Eine DNA-Untersuchung hat ergeben, dass der Eckzahn mit einer Wahrscheinlichkeit von 1 zu 423 Trillionen von Hussein K. stammt. Nur ein eineiiger Zwilling kann vergleichbare genetische Daten aufweisen.

Der Prozess gegen Hussein K. wird am Donnerstag fortgesetzt.

INFO: Jugend- und Erwachsenenstrafrecht

Die Justiz unterscheidet bei Strafprozessen zwischen Erwachsenen- und Jugendstrafrecht. Ist ein Angeklagter zur Tatzeit jugendlich (14 bis 17 Jahre alt), gilt Jugendstrafrecht. Rechtlich möglich ist dies in den meisten Fällen auch bei Heranwachsenden (zur Tatzeit 18 bis 21 Jahre alt).

Ist ein Angeklagter zur Tatzeit 22 Jahre oder älter, gilt automatisch Erwachsenenstrafrecht. Jugendstrafrecht ist dann ausgeschlossen.Das Jugendstrafrecht unterscheidet sich deutlich vom Strafrecht für Erwachsene. Im Mittelpunkt steht hier den Angaben zufolge die Erziehung und nicht die Bestrafung.

Prozesse, die nach Jugendstrafrecht verhandelt werden, sind in der Regel nicht öffentlich. Bei Heranwachsenden können Ausnahmen gemacht werden. Prozesse nach Erwachsenenstrafrecht werden normalerweise öffentlich verhandelt.Unterschiede gibt es auch bei den Strafen: Möglich nach Jugendstrafrecht sind maximal fünf Jahre Haft, bei Mord in der Regel bis zu zehn Jahre. Bei Mord in besonders schweren Fällen und nur bei Heranwachsenden (nicht bei Jugendlichen) können es auch maximal 15 Jahre Haft sein. Nach Erwachsenenstrafrecht wird Mord in der Regel mit einer lebenslangen Haftstrafe geahndet.