Stuttgart - Eltern hatten gewarnt, Schulrektoren nicht minder - sie befürchteten eine Billiglösung zum Nachteil der behinderten Kinder. Doch ihr Erfahrungswissen blieb ungenutzt. Ohne Eltern- oder Schul-Expertise schrieb das Schulverwaltungsamt 122 Schülertouren für die kommenden drei Schuljahre aus - nach kostengünstigen Kriterien. Wie in der Vergangenheit sollte der Vorgang routiniert abgewickelt werden. Das Amt reagierte daher irritiert, als im Frühjahr 2010, mitten in der Ausschreibungsphase, die schwelende Qualitätsdiskussion plötzlich hochkochte - ausgelöst durch kritische Medienberichte über den Malteser Hilfsdienst, der mehrere Schülertouren betreute. Wie sich zeigte, handelte es sich bei den festgestellten Mängeln - häufiger Fahrerwechsel, unzureichende Fahrzeugausstattung - nicht um einzelne Pannen, sondern um das Ergebnis einer chronischen Unterfinanzierung der Schülerbeförderung durch Stadt und Land.

Über Jahre hinweg hatte sich das Problem angebahnt: Seit 1997 stagnieren die Finanzzuweisungen des Landes an die Landeshauptstadt bei zehn Millionen Euro pro Jahr - obwohl dank des medizinischen Fortschritts mehr behinderte Kinder denn je am Schulleben teilnehmen können. Zwangsläufig vergrößerte sich der städtische Zuschuss - zuletzt lag er bei drei Millionen Euro pro Jahr. Weil die Stadt Stuttgart ihrerseits nicht bereit war, mehr Geld für mehr Qualität bereitzustellen, wurde das Problem nach unten durchgereicht: Im Wettlauf um einen Rest an Rentabilität reduzierten Anbieter von Schülertouren wie der Malteser Hilfsdienst oder das Deutsche Rote Kreuz ihre Kosten. Das Qualitätsniveau sank.

Minijob mit großer Verantwortung

Aufgrund der Berichterstattung befasste sich der Stuttgarter Gemeinderat erstmals überhaupt mit der verdrängten Thematik. SPD und Grüne forderten, das Ausschreibungsverfahren zu stoppen. Die Stadt lehnte ab, sicherte jedoch zu, darauf zu achten, dass die Schüler gut befördert werden. Die Schulbürgermeisterin selbst versprach Verbesserungen: Susanne Eisenmann erklärte, man sei bestrebt, "den Orientierungswert von 1,5 Stunden für die einfache Fahrt eines behinderten Kindes von seiner Wohnung bis zur Schule möglichst eher in Richtung eine Stunde zu verkürzen". Zudem werde man das Beschwerdemanagement ausbauen. 

Die Eltern fühlen sich alleingelassen, ausgebremst. In die Dankbarkeit für die Fürsorge, die ihren Kindern durch die Schule entgegengebracht wird, mischt sich Ärger über die mangelnde Wertschätzung durch Teile des Schulverwaltungsamts. Zwei Treffen mit Vertretern der Stadt und der Firma Sonnenschein im Dezember und Januar verliefen aus Elternsicht unbefriedigend. Einzelne Mängel seien zwar abgestellt worden, an der Grundproblematik - der Schülerbeförderung auf Sparflamme - habe sich jedoch nichts geändert.

Gleichwohl sind viele Fahrer aus Elternsicht mit Engagement bei der Sache. Vereinzelt sitzen allerdings auch Personen am Steuer, die nach ihrer Einschätzung die notwendige Sensibilität vermissen lassen. Von einem Mitarbeiter, der seine jungen Passagiere angeschrien haben soll, hat sich die Firma angeblich getrennt. Ein anderer soll ermahnt worden sein, weil er glaubwürdigen Berichten zufolge seine Tour unterbrochen hatte, um mit dem Bus in die Waschstraße zu fahren; angesichts der rotierenden Walzen reagierte ein Kind panisch. Statt den Vorgang abzubrechen, beförderte er die behinderten Kinder offenbar nach draußen - und setzte die Reinigung fort.

"Die Situation schreit nach einem Runden Tisch"

Für die Eltern ist jedenfalls längst nicht alles Sonnenschein. Seit November unterhält das Offenbacher Unternehmen in Stuttgart zwar ein Büro, die Koordination von fast 90 Fahrern, die in 44 Fahrzeugen täglich rund 230 Kinder zu zwei Schulen und zwei Schulkindergärten befördern, soll im Wesentlichen aber auf einer emsigen Mitarbeiterin lasten, die die Touren vom Schulhof aus per Handy dirigiert. "Die Situation, die vorher schon nicht rosig war, hat sich insgesamt verschlechtert", sagt Anne Siepmann, Elternbeiratsvorsitzende der Körperbehindertenschule. Die stellvertretende Rektorin Christiane Sättler-Adel pflichtet ihr bei. Sie spricht von fundamentalen Problemen. Ohne Vorbehalte sei die Schule nach den Sommerferien auf den neuen Anbieter zugegangen. Nun müsse man feststellen: "Sonnenschein überzeugt nicht."

Hauptadressat des Elternfrusts ist allerdings das Schulverwaltungsamt. Anne Siepmann hält der Behörde vor, die gegenwärtige Situation sehenden Auges herbeigeführt zu haben. Hauptkritikpunkt sind fehlende Ausschreibungsvorgaben zur Mitnahme von Rollstühlen und anderer Hilfsmittel. Ohne ihre Hilfsmittel aber sind die Kinder aufgeschmissen. Also wird nach den Beobachtungen von Eltern improvisiert, werden Rollstühle in den mit bis zu sieben Kindern besetzten Kleinbussen notdürftig mit Schnüren fixiert. Ein Sonnenschein-Mitarbeiter, der die Situation aus täglichem Erleben kennt, nennt den Zustand "lebensgefährlich". Ein Glück, dass bisher nichts passiert sei. Das Offenbacher Unternehmen versichert dagegen, man setze neue Rollstuhlfahrzeuge ein, die über Tüv-geprüfte Rückhaltesysteme verfügten. Gleichzeitig weist Sonnenschein darauf hin, dass die Mitnahme von Hilfsmitteln in der Ausschreibung nicht erwähnt gewesen sei. In Gesprächen mit Eltern, der Schule und dem Schulverwaltungsamt hätte erst geklärt werden müssen, was konkret transportiert werden solle: "Zwischenzeitlich ist die Mitnahme von Hilfsmitteln problemlos möglich", sagt Jonas Sudhoff, Mitglied der Geschäftsleitung von Sonnenschein, auf Anfrage. Davon kann laut Anne Siepmann keine Rede sein; erst am Mittwoch musste der Rollstuhl ihres Sohnes wieder in den Fahrgastraum gezwängt werden.

"Die Situation schreit nach einem Runden Tisch"

Ein weiteres Ärgernis sind die Fahrzeiten. Statt die Touren zu verkürzen, wie von der Stadt versprochen, wurden einige sogar offenbar ausgedehnt. Der Grund: Sonnenschein platziert mehr Kinder in einen Bus als zuvor die Malteser - dadurch werden weniger Fahrzeuge benötigt. Viele behinderte Kinder verbringen täglich drei Stunden im Bus. In einem Fall seien es sogar knapp vier, sagt ein Mitarbeiter. Erst dieser Tage bekam Konrektorin Sättler-Adel Post von einer Kinderärztin, die dringend riet, die Fahrzeit für ein Mädchen auf höchstens eine Stunde täglich zu beschränken. Was tun? Ihr sind die Hände gebunden. Sonnenschein verweist auf die vertraglichen Vorgaben, an die man sich strikt halte. Die Auslastung der Fahrzeuge erfolge auch aus ökologischen Gesichtspunkten.

Die Eltern fühlen sich alleingelassen, ausgebremst. In die Dankbarkeit für die Fürsorge, die ihren Kindern durch die Schule entgegengebracht wird, mischt sich Ärger über die mangelnde Wertschätzung durch Teile des Schulverwaltungsamts. Zwei Treffen mit Vertretern der Stadt und der Firma Sonnenschein im Dezember und Januar verliefen aus Elternsicht unbefriedigend. Einzelne Mängel seien zwar abgestellt worden, an der Grundproblematik - der Schülerbeförderung auf Sparflamme - habe sich jedoch nichts geändert.

Die Leiterin des Schulverwaltungsamtes Karin Korn zeigt auf Anfrage Verständnis für die Eltern: "Es ist viel passiert, was nicht hätte passieren dürfen." Die beanstandeten Mängel reichten aber nicht aus, den Vertrag mit Sonnenschein aufzulösen. Grundsätzliche Verbesserungen seien erst bei der Ausschreibung in zweieinhalb Jahren möglich. Das genügt den Eltern nicht. Anne Siepmann, Christiane Brehl, Matthias Bauer und Michael Arends, die das Sprachrohr der Elternschaft an der Körperbehindertenschule bilden, wehren sich mit Nachdruck dagegen, dass der Ist-Zustand bis 2013 zementiert sein soll. Sie fordern schnellstmögliche Korrekturen: Platz für Hilfsmittel, kindgerechte Tourenplanung, mehr Kommunikation, Transparenz und eine bessere Infrastruktur des Anbieters. "Die Situation schreit förmlich nach einem Runden Tisch mit Eltern und dem Oberbürgermeister", sagt Christiane Brehl.

Wolfgang Schuster hatte sich in die Qualitätsdebatte schon einmal eingeschaltet. Im Mai 2010 wandte er sich in einem Brief an Ministerpräsident Stefan Mappus. Darin bat Schuster um finanzielle Unterstützung des Landes. Mappus delegierte das Thema an den Behindertenbeauftragten, Dieter Hillebrand, der seinerseits eine Arbeitsgruppe einberief. Diese kam zu dem vorläufigen Ergebnis: Das Qualitätsproblem stellt sich in dieser Form nur in der Landeshauptstadt. Der Staatssekretär schließt daraus, Stuttgart müsse sein Problem selbst lösen: "Die Stadt wird im Finanzausgleich besser bedient als kleinere Kommunen." Er habe daher kein Verständnis, wenn gesagt werde, das könne man sich nicht leisten.