Die Autobahnausfahrt „Mercedes Drive“ bei Tuscaloosa im US-Bundesstaat Alabama: Die Straße führt zu dem Werk, in dem Mercedes die C-Klasse produzieren lässt Foto: dpa

Daimler macht aus der US-Baumwollregion Tuscaloosa einen Top-Industriestandort. Jetzt hat die Politik Angst vor der Gewerkschaft.

Tuscaloosa - Sechs Wochen lang war David Hunter aus Tuscaloosa (US-Bundesstaat Alabama) in Sindelfingen, um sich ins Produktionssystem einzuarbeiten. „Ich habe in Sindelfingen das Produktionssystem studiert“, berichtet der dunkelhäutige Teamleiter fast ehrfürchtig. Derzeit weist er dort seine Mitarbeiter ein, damit die erste C-Klasse aus den USA bald in makelloser Qualität vom Band läuft. Sindelfingen dagegen wird das volumenstärkste Auto des Konzerns künftig nicht mehr bauen – so hat es der Vorstand vor gut vier Jahren entschieden. „Ohne C geht’s Ländle hee“, hatten die Bürger auf ihre Protestplakate geschrieben. Umstimmen konnten sie den Konzern nicht mehr.

„Bei Mitarbeitern, die teils über Generationen hervorragende Leistungen gebracht haben, entsteht schon mal das Gefühl, dieses Modell gehöre sozusagen ihnen“, sagte Konzernchef Dieter Zetsche damals im Interview mit unserer Zeitung. Die Frage sei aber nicht gewesen, ob man die C-Klasse aus Sindelfingen für die USA produzieren könne, sondern „ob wir sie für die USA überhaupt noch produzieren können oder nicht“.

Die Region

Für Geländewagen hat Daimler diese Frage schon vor 20 Jahren entschieden. Damals hatte die hügelige Region um Tuscaloosa vor allem von der Baumwolle gelebt. Heute wirbt sie stolz damit, ein wichtiger Standort für die Autoindustrie, Luft- und Raumfahrt und Alternativenergien zu sein. Kaum ein großer Name der Branche, der nicht in Alabama vertreten ist: Michelin, Faurecia, Brose, Johnson Controls sind ebenso darunter wie Größen aus der Region Stuttgart – etwa Eberspächer (Abgasspezialist aus Esslingen), Boysen (Abgasspezialist aus Altensteig bei Calw) oder der Getriebehersteller ZF aus Friedrichshafen.

„Mit Mercedes wurde hier alles anders“, sagt Dara Longgrear, Chef der örtlichen Wirtschaftsförderungsbehörde IDA, mit einer Mischung aus Stolz und Dankbarkeit. „Mercedes ist das Risiko eingegangen und hat Autos produziert in einer Region, in der noch nie zuvor ein Auto hergestellt worden war.“ Mit der Entscheidung der Stuttgarter, auf der grünen Wiese eine Autofabrik zu bauen, kam in der Region eine rasante Industrialisierung in Gang. Daimler zog Zulieferer an, um das Werk direkt vor Ort beliefern zu können. Die Entscheidung der Stuttgarter und die Ansiedlung von Zulieferern machte auch andere Autohersteller auf Alabama aufmerksam – die ihrerseits Zulieferer anzogen. Heute sind in Alabama vier große Autohersteller mit eigenen Werken vertreten – Honda und Hyundai bauen Autos, Toyota Motoren. In Alabama bauen Mercedes, Honda und Hyundai heute insgesamt 915 000 Autos pro Jahr. Das entspricht der Produktion des gesamten Daimler-Konzerns von fast acht Monaten. Und die Million ist in greifbarer Nähe, denn mit der C-Klasse kommen demnächst weitere 80 000 hinzu. Praktischerweise unterhält Volkswagen mit dem Werk Chattanooga im Bundesstaat Tennessee einen großen Standort gut 300 Kilometer nordöstlich von Tuscaloosa, was das Engagement von Zulieferern für Massenhersteller noch attraktiver macht.

Die Politik

Doch nicht nur Mercedes ist ein Risiko eingegangen, sondern auch der Staat Alabama und das beschauliche Städtchen Tuscaloosa. Drei Standorte hatten die Stuttgarter vor gut 20 Jahren zur Auswahl, und Tuscaloosa bekam den Zuschlag wohl nicht nur wegen seiner gefälligen Landschaft, sondern auch wegen der hohen Subventionen von über 250 Millionen Dollar (heute rund 180 Millionen Euro). Verbilligtes Land, Steuererleichterungen, Straßen – die Wirtschaftsförderer ziehen alle Register, um Investoren zu gewinnen. Selbst ein Schulungszentrum errichteten sie für Daimler – ein cleverer Schachzug, ist die Ausbildung qualifizierter Menschen doch ein wichtiges Pfund im Kampf um weitere Investoren.

Damit das Wachstum nicht durch einen Mangel an Fachkräften ausgebremst wird, unterhält das Land eine Agentur, die Bürger gezielt auf die Anforderungen der örtlichen Autounternehmen hin qualifiziert und sie dann an die betreffenden Firmen weitervermittelt. Das ist, als gäbe es in Deutschland eine Arbeitsagentur speziell für die Autobranche. Die Shelton-State-Universität wiederum spezialisiert sich auf Ingenieurdisziplinen wie Roboter-, Elektro- und Fertigungstechnik und hat vom Staat Alabama 1,6 Millionen Dollar (1,1 Millionen Euro) erhalten, um zusammen mit Daimler Studenten in diesen Fächern auszubilden.

Die Gewerkschaft

Keines der beteiligten Autounternehmen würde es zugeben – doch das rasante Wachstum der Autoindustrie in einigen südlichen Bundesstaaten hat wohl auch damit zu tun, dass diese praktisch gewerkschaftsfreies Land sind – ganz im Gegensatz zum nördlichen Detroit, in dem die Mitgliedschaft in der Autogewerkschaft UAW einst sogar Einstellungsvoraussetzung war. Doch solche Vereinbarungen zwischen Herstellern und Gewerkschaften, wie sie selbst im Sozialstaat Deutschland undenkbar wären, sind inzwischen in 24 der 50 Bundesstaaten verboten. Viele Politiker sehen darin eine Diskriminierung von Menschen, die sich nicht gewerkschaftlich organisieren und trotzdem arbeiten wollen. Aber es geht nicht nur um die Rechte der Arbeiter, sondern auch um knallharte Standortpolitik: Ein „Recht-auf- Arbeit“-Gesetz, das solche Vereinbarungen verbietet, ist an immer mehr Standorten ein probates Argument, mit dem man Investoren anlockt. Auch in den Werbebroschüren von Tuscaloosa findet sich ein solcher Hinweis.

Die Nervosität ist groß, seit die Gewerkschaft versucht, im VW-Werk Chattanooga eine Vertretung aufzubauen, die nach US-Recht Voraussetzung für die Gründung eines Betriebsrats nach deutschem Muster ist. VW sei „schrecklich naiv“ zu glauben, das deutsche Modell nach Amerika exportieren zu können, sagte der republikanische Politiker Bob Corker, der Tennessee im US-Senat vertritt. Das Unternehmen begehe „einen der größten Fehler der Konzerngeschichte“.VW-Betriebsratschef Bernd Osterloh konterte: „Demokratie endet für uns nicht an Werkzäunen.“

Für die UAW steht beim Kampf um die Werke ausländischer Hersteller die Existenz auf dem Spiel, denn wegen des jahrelangen Niedergangs der US-Autoindustrie ist ihnen ein Großteil der Mitglieder abhandengekommen – und damit auch die Macht, die sie braucht, um für Arbeiter attraktiv zu sein. Selbst der US-Staat Michigan, Sitz der US-Autohauptstadt Detroit, hat der UAW inzwischen per Gesetz Grenzen aufgezeigt.

Der Gouverneur von Tennessee, Bill Haslam, fürchtet bereits das Schlimmste, wenn sich die Gewerkschaft bei ausländischen Herstellern den Einfluss holt, den sie bei den einheimischen längst verloren hat: Es werde wohl schwerer, ausländische Zulieferer anzuziehen, klagt er. „Bei allen Gesprächen ist die Gewerkschaft inzwischen ein Thema.“

Die Ansicht, die Gewerkschaft UAW habe zuerst den Niedergang der US-Autoindustrie verursacht und mache sich nun an den ausländischen Herstellern im Land zu schaffen, ist in der Politik, vor allem unter Republikanern, weit verbreitet. Manche reden von der UAW wie von einem ansteckenden Virus.

Politiker in Tuscaloosa verfolgen das Treiben mit Argwohn und befürchten, dass die Welle von VW überschwappen wird. „Es gibt hier keinen Bedarf für kollektive Verhandlungen“, sagt Alabamas Wirtschaftsminister Greg Canfield beschwörend. Und Wirtschaftsförderer Longgrear erklärt, der durchschnittliche Wochenlohn in Alabama liege bei 787 Dollar (575 Euro), in der Autobranche sei er dagegen fast doppelt so hoch. An der Landstraße zwischen den Städten Birmingham und Tuscaloosa steht ein großes Schild: „Nein zur UAW. Die UAW ist für Verlierer da, Alabama für Gewinner.“

Daimler selbst bemüht sich, den Ball flach zu halten. „Wir sind gesetzlich zur Neutralität verpflichtet. Daran halten wir uns“, sagt Konzernchef Dieter Zetsche. Und schiebt dann doch nach: Man könne „in Tuscaloosa auch direkt mit den Mitarbeitern eine gute Entwicklung vollziehen“. Betriebsratschef Erich Klemm erklärt dagegen, er würde eine „Interessenvertretung der Daimler-Mitarbeiter in Tuscaloosa begrüßen“.

Die Zukunft

Die Politik ist Daimler dankbar für das Engagement – doch sie dankt den Stuttgartern nicht mehr auf Knien. „Wäre es bisher nicht so gut gelaufen“, sagt Wirtschaftsförderer Longgrear stolz, „hätte Daimler hier sicher nicht weitere Milliarden investiert.“ Mittlerweile stelle der US-Staat nicht mehr nur Arbeiter, sondern immer mehr Topmanager wie etwa den ambitionierten Werkleiter Jason Hoff. „Nichts ist unmöglich“, sagt Longgrear in Anspielung auf den ebenfalls vor Ort vertretenen Toyota-Konzern. „Was spricht eigentlich dagegen, dass der nächste Daimler-Chef aus Alabama kommt?“