Baden-Württembergs Verfassungsschützer verzichten vorerst auf Vernichtung von Akten mit Infos zu Rechtsextremen. Foto: dapd

Verunsicherte Geheime: Die NSU-Untersuchungsausschüsse fordern Akten an, die längst vernichtet hätten werden müssen. Mit ihnen wollen die Politiker die Nazi-Morde aufklären.

Stuttgart - Diese Papierschnipsel sind ein Aufreger. Für den Hannoveraner SPD-Politiker Sebastian Edathy machen sie es schwierig, „Verschwörungstheorien überzeugend gegenüberzutreten“. Der Böblinger Christdemokrat Clemens Binninger fühlt sich bei ihrem Anblick „eher an eine Lotterie als an ein seriöses Prinzip“ erinnert. Und die Berliner Linke Ulla Jelpke glaubt gar daran, dass mit ihnen die „Vertuschung vertuscht“werde. Selten hat Konfetti so viel politische Einigkeit über alle Parteigrenzen hinweg hergestellt.

Als im November vergangenen Jahres ein Mitarbeiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV) einen Reißwolf mit 124 Aktenordnern fütterte, konnte er sich nicht ausmalen, was er damit lostreten würde. Denn gerade war Politikern, Sicherheitsbehörden und den Deutschen erstmals bewusst geworden, dass rechte Terroristen jahrelang mordend durchs Land gezogen waren. Und bei den vernichteten Akten befanden sich auch sieben, in denen die Geheimen Erkenntnisse zu „Tobago“ und „Tusche“, zu „Treppe“ und „Tonfarbe“, zu „Tacho“, „Tinte“ und „Tarif“ fanden – Spionen, die die Behörde in der rechtsextremen Szene hatte. Und die seit geraumer Zeit keine Informationen mehr lieferten.

Seit vergangener Woche ist sicher: Keine der vernichteten Akten enthielt einen Hinweis auf das Mord-Trio der NSU. Die Schredderaktion im Referat 2B2 des BfV – so der von Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) berufene Sonderermittler Hans-Georg Engelke – hätte einen Grund gehabt: Der zuständige Beamte habe die Akten aus Furcht schnell vernichtet, weil die Fristen zur Löschung überschritten waren.

Beenden die Agenten die Überwachung, erfährt der Betroffene allenfalls, dass er einer „Post- und Telekommunikationsüberwachung“ unterlag

Eine Furcht, die offenbar auch in anderen deutschen Sicherheitsbehörden um sich greift. Vor allem, weil in den Ämtern auch nach dem Auffliegen der NSU Akten mit Infos zu Rechtsextremen vernichtet wurden – eben so, wie es die Gesetze der Bundesländer vorschreiben. Im baden-württembergischen Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) wurden jetzt alle anstehenden Schredderaufträge für Akten mit „personenbezogenen Erkenntnissen“ im rechtsextremen Spektrum gestoppt. Damit solle verhindert werden, so ein Nachrichtendienstler, „dass Informationen verloren gehen, die einen Bezug zum NSU-Fall haben könnten“. Die deutschen Inlandsgeheimdienste suchen, sammeln und werten Informationen aus, die Aufschluss über extremistische Aktivitäten in Deutschland geben. Meist werden Daten gesammelt oder gespeichert, ohne dass der Betroffene dies weiß. Dazu dürfen die Beamten der LfV Menschen observieren, ihre E-Mails mitlesen oder ihre Telefonate abhören. Beenden die Agenten die Überwachung, erfährt der Betroffene allenfalls, dass er einer „Post- und Telekommunikationsüberwachung“ unterlag.

Diese sehr intensiven Eingriffe „in die Grundrechte eines Menschen“, so ein Verfassungsschützer, machten eine „sehr konsequente Datenschutzregel notwendig“. In Baden-Württemberg regelt dies das Gesetz über den Verfassungsschutz. Nach dem prüfen die Geheimen „bei der Einzelfallbearbeitung und nach festgesetzten Fristen, spätestens nach fünf Jahren, ob in Dateien gespeicherte personenbezogene Daten zu berichtigen oder zu löschen sind“.

Anders ausgedrückt: Besucht ein 16-Jähriger das Konzert einer rechtsradikalen Musikgruppe, kann er sicher sein, dass fünf Jahre später seine Verfassungsschutzakte gelöscht wird, wenn er nicht mehr aufgefallen ist. Wichtig, wenn der Jugendliche bei der Polizei, auf dem Flughafen oder in einem Kernkraftwerk arbeiten will. Denn: Bei Bewerbern von sicherheitsempfindlichen Unternehmen, Computerfirmen und Forschungsinstituten bis hin zu Beamten wird das LfV routinemäßig nach seinen Erkenntnissen über die zukünftigen Mitarbeiter befragt. In solchen Fällen, sagt ein Verfassungsschützer, „entscheiden unsere Akten über Lebenswege“.

Außer Baden-Württemberg füttert auch das BfV seine Reißwölfe nicht mehr mit Futter aus der rechtsextremen Szene. Andere Bundesländer wie Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Hamburg prüfen derzeit, ob auch dort künftig die gesetzlich vorgeschriebene Vernichtung von Akten so lange ausgesetzt wird, bis die NSU-Untersuchungsausschüsse im Bund und in den Bundesländern ihre Arbeit abgeschlossen haben.