Wer unter Long Covid leidet, entwickelt oft Symptome einer Depression. Oder ist es andersherum? Was Hausärzte und die größte Krankenversicherung in Baden-Württemberg sagen.
Long-Covid-Patienten entwickeln oft Symptome einer Depression. Darauf hat im Herbst eine Auswertung von Daten der 4,6 Millionen AOK-Versicherten in Baden-Württemberg aufmerksam gemacht. Doch was ist Ursache, was Wirkung? Darüber bricht immer wieder heftiger Streit aus, auch unter Patienten und auch in Reaktion auf den Bericht unserer Zeitung.
Bei Long Covid komme es „viel zu schnell zur Falschdiagnose Depression und es ist total normal, bei einer so schweren Krankheit depressiv zu werden“, schreibt eine Nutzerin auf X, vormals Twitter. Sie ist eine von Dutzenden Usern, die sich zu der Berichterstattung geäußert haben. „Sie sehen anhand der Tweets, dass Handlungsbedarf besteht. Wegen Fehlern im System werden unglaublich viele Leute fehlbehandelt“, schrieb eine Betroffene.
Abgrenzung oft schwierig
Ob zu Recht oder zu Unrecht: Bei gut einem Viertel der Long-Covid-Patienten unter den AOK-Versicherten im Land ist vom Arzt eine Depression diagnostiziert worden. Dafür müsse mindestens eines der Hauptsymptome auftreten, sagt Susanne Bublitz, die Vorsitzende des Hausärzteverbands Baden-Württemberg: gedrückte Stimmung, Interessenverlust und Antriebsmangel. Zudem müssten Nebensymptome wie Konzentrationsstörungen, ein vermindertes Selbstwertgefühl, übertriebene Zukunftsängste, Schlafstörungen oder Ähnliches vorliegen.
Das Problem: Long-Covid-Patienten beschreiben „sehr viele Symptome, die mit denen einer Depression überlappen können“, sagt Bublitz: „Daher ist es unter Umständen schwierig, Patienten mit Depression und Long Covid zu unterscheiden“. Auch Alexandra Isaksson, Medizinerin bei der AOK, sagt: „Es ist nicht leicht, während der Pandemie aufgetretene Erschöpfungssymptome, psychische Beschwerden und Leistungseinschränkungen von Long-Covid-Symptomen abzugrenzen.“
Depression wird seltener behandelt als Lungenprobleme
Bei Long Covid kann beides gemeinsam auftreten, typische körperliche Beschwerden wie Erschöpfung sowie psychische Belastungen. Man dürfe das nicht vermischen, betonen die Medizinerinnen Bublitz und Isaksson. Wie aber wird es behandelt – und wie abgerechnet?
Die bei der AOK versicherten Long-Covid-Patienten kommen auf im Schnitt 0,88 Behandlungstage bei psychotherapeutischen und psychiatrischen Behandlern, die Vergleichsgruppe ohne Long Covid auf 0,52 Behandlungstage. Der Behandlungsbedarf steigt mit mit Long Covid also an, aber bei weitem nicht so stark wie die Besuche beim Lungenarzt (sechsmal so hoch wie in der Vergleichsgruppe) oder beim Kardiologen (dreimal so hoch).
Emotionales Thema
„Welche Faktoren genau das Risiko für Long Covid erhöhen, ist noch nicht vollständig untersucht“, schreibt das Bundesgesundheitsministerium auf seiner Website. Die Forschung zu der Krankheit kommt allerdings nicht recht in Gang. Studien, ob Long-Covid-Patienten vor ihrer Erkrankung häufiger depressiv waren als Menschen ohne Long Covid kenne sie nicht, sagt Susanne Bublitz vom Hausärzteverband.
Eher sei die Erkrankung ein Risikofaktor für Depressionen: „Patienten beschreiben oft eine Müdigkeit, die sie vorher nicht kannten. Wenn das wochen- oder monatelang anhält, halte ich es für legitim, dass die Diagnosekriterien einer Depression erfüllt sind“, so Bublitz. Mit so einer Diagnose könnten auch bestimmte ärztliche Leistungen abgerechnet werden, etwa vertiefende Gespräche mit den Patienten. Dafür bedeutet die Diagnose Depression vielfach erhebliche Probleme bei der Suche nach einer privaten Krankenversicherung.
Für viele ist das Thema Depression und Long Covid auch schlicht deshalb so emotional besetzt, „weil Patienten lieber so etwas wie einen Blutwert haben, den man therapieren kann“, vermutet Bublitz. Psychische Probleme wollten viele nicht als Ursache haben. Wo Depressionen sich infolge von Long Covid ausbilden, fehlt es aus Sicht vieler Patienten an der richtigen Therapie.
Diagnose, Behandlung, Streit
Sie würden in diesem Fall „nicht anders behandelt als sonst auch“, sagt die AOK-Medizinerin Alexandra Isaksson. Dabei müsse auf individuelle oder Long-Covid-spezifische Belastungen eingegangen werden. Für körperliche oder psychische Erschöpfungszustände gebe es noch kein spezifisches Medikament.
Deshalb würden Betroffene „symptomatisch behandelt und in ihrer Alltagsfähigkeit unterstützt“, so Isaksson, etwa Strategien für den Umgang mit Stress und Belastungen lernen oder ein bewusstes Energiemanagement. Zwar gebe es Hinweise, dass die Fatigue bei Long Covid länger anhalte als als körperliche Beschwerden. Aber auch hier fehlen bisher Daten: Man warte noch auf Ergebnisse aus Langzeitstudien, sagt die AOK-Medizinerin.
Der hohe Anteil der Diagnose Depression unter den Long-Covid-Patienten sagt also nichts über deren Ursache aus. Die Krankheit, ihre Ursachen und Folgen sind weiterhin nicht voll erforscht. Diagnostiziert wird trotzdem, behandelt ebenfalls – und weiter gestritten.