Die ihm angeblich von einer Seniorin zugefügten Kratzer im Gesicht des Jungen waren frei erfunden. Foto: © rkris – stock.adobe.com

Junge hat Übergriff erfunden. Sechsjähriger berichtigt Darstellung kurz vor dem Prozess. Freispruch.

Villingen-Schwenningen - Die Angeklagte strahlt: Sie hat vor dem Amtsgericht in Villingen einen Freispruch erwirkt. Die Geschichte, wonach sie einem sechsjährigen Jungen das Gesicht zerkratzt haben sollte, war frei erfunden.

Der Schwarzwälder Bote hatte im Vorfeld der Gerichtsverhandlung groß berichtet. Wieder und wieder hatte die 69-Jährige darauf beharrt, nie getan zu haben, was ihr vorgeworfen worden war. Nach Erscheinen des Artikels wurden seitens der Mutter die Vorwürfe gegenüber unserer Zeitung relativiert – die Frau habe den Jungen weder am Kragen gepackt noch ihm das Gesicht zerkratzt. Der Junge habe die Geschichte erfunden.

Trotzdem: Die Gerichtsverhandlung für den gestrigen Donnerstag war längst anberaumt. Auf der Anklagebank musste die unschuldige Rentnerin Platz nehmen. Konsequent hatte sie von Anfang an auf ihrer Darstellung beharrt, wonach es diesen Vorfall nie gegeben habe – deshalb ging sie auch nicht auf das Angebot ein, den Fall gegen Zahlung einer geringen Geldauflage einzustellen.

Kurz vor knapp, am Mittwoch, ging beim Amtsgericht schließlich ein Schreiben der Mutter des Jungen ein. Darin schilderte die 42-Jährige, was ihren Jungen zur Besinnung gebracht habe: Er habe in einem Drogeriemarkt gesehen, wie ein mutmaßlicher Dieb von der Polizei verhaftet worden sei. "Mama, wird man auch verhaftet, wenn man lügt?", habe er gefragt. Als diese ihm erklärt habe, dass man das in der Tat nicht dürfe, sei der Sechsjährige schließlich mit der Wahrheit herausgerückt: Er habe die ganze Geschichte erfunden.

"Da war nix", brachte es Richter Christian Bäumler nun auch während des Prozesses auf den Punkt. "Ich als Mutter habe nur meine Pflicht gemacht, ich bin froh, dass er jetzt die Wahrheit gesagt hat", betonte die Mutter im Zeugenstand, während der Staatsanwalt ihr einen guten Rat mit auf den Heimweg gab: Sie solle ihren Sohn nicht vorrangig tadeln, sondern ihn stattdessen loben, dass er nun die Wahrheit gesagt habe. Und mit Blick auf die unschuldig Angeklagte meinte er: "Da sie die Tat nicht begangen hat, ist sie freizusprechen."

Deren Verteidiger Hartung Schreiber ließ nochmal Revue passieren, wie hartnäckig seine Mandantin trotz der Aussicht auf eine Verfahrenseinstellung in einem Vergleich betont habe, diese Tat nie begangen zu haben und folglich auch zu keiner Zahlung bereit zu sein. "Es ist gut, wenn man hartnäckige Mandanten hat", betonte Schreiber.

Der Seniorin fiel ein Stein vom Herzen. Trotz aller Freude über den Freispruch nach dem Geständnis des Jungen legte sie Wert auf die Feststellung, dass folglich auch die Aussagen der Mutter im Vorfeld falsch gewesen seien: Diese habe nämlich behauptet, die Seniorin hätte am Balkon stehend gesagt, "dieses Kind kann froh sein, dass ich es nicht noch ganz erwischt habe", aber: "Wenn ich es doch nicht getan habe, wie wäre ich dann zu so einer Aussage gekommen?", warf die zu unrecht Angeklagte, immer noch empört, in den Raum.