Ein Bild aus glücklichen Tagen: Seit dem 16. September sind Marina und Darren Jenkins von ihrer eineinhalbjährigen Tochter Joy getrennt. Foto: privat

Jugendamt nimmt Marina Jenkins Tochter in Obhut. Eltern erklären Knochenbrüche mit Stürzen.

Villingen-Schwenningen - Marina Jenkins ist in der 39. Schwangerschaftswoche. Die 28-Jährige wird bald zum zweiten Mal Mutter. Doch die Vorfreude auf den weiteren Familienzuwachs ist verschwunden. "Ich habe so große Angst", sagt sie.

Der Grund: Vor sieben Wochen hat das Jugendamt Villingen-Schwenningen ihre eineinhalbjährige Tochter Joy in Obhut genommen.

"Ich gehe davon aus, dass ich im Hebammenhaus entbinde und das Kind dann auf dem Parkplatz übergeben muss. Das macht mir total Angst. Ich kann mich nicht auf die Geburt einlassen", sagt Marina Jenkins, die wie ihr Mann Darren an der Ungewissheit verzweifelt. Den Vorwurf, sie hätten ihre Tochter misshandelt, können sie nicht nachvollziehen. "Wir haben ihr nichts angetan."

Was ist passiert? Am Vormittag des 5. September, ein Donnerstag, sind Marina und ihre Mutter Patricia Wienert mit Joy im Schwimmbad. Das Kind spielt im Wasser und dennoch, irgendetwas ist anders. "Sie hat mit beiden Händen mit den Bechern gespielt. Ich hatte aber den Eindruck, dass es mit dem linken Arm verlangsamt ist", sagt die 28-Jährige. Als Vater Darren, der gerade im zweiten Ausbildungsjahr zum Zerspanungsmechaniker ist, nach Hause kommt, fährt die Familie in die Notaufnahme des Klinikums Villingen-Schwenningen. Dort wird der Bruch der Elle und der Speiche festgestellt. Joys Arm wird eingegipst. Das Kind bleibt mit seiner Mutter im Krankenhaus.

Weil die beiden Brüche nicht zeitgleich passiert sein können – die Ellen-Verletzung ist bereits "verkalkt" –, wird am folgenden Tag eine Röntgenaufnahme des rechten Arms gemacht. Dort stellen die Ärzte eine ältere Fraktur fest. Es folgt ein Diagnose-Marathon für das Kleinkind. Allein am Montag, 9. September, werden die rechte und linke Körperhälfte, der Kopf und das Achsenskelett (Brustkorb, Wirbelsäule) geröngt. Der Kopf wird anschließend noch in einem MRT unter die Lupe genommen.

Die Mediziner finden Anzeichen für Brüche am Knie und der linken Schulter. Bei einer Nachuntersuchung der beiden Stellen am 24. September gibt es für die Schulter keinen "Nachweis einer frischen knöchernen Traumafolge" und, weil die Knochenhaut nicht abgehoben ist, auch "keinen sicheren Nachweis einer älteren Fraktur". Auch beim Knie wird bei der Nachuntersuchung kein frischer Knochenbruch nachgewiesen. Eine "vermehrte Sklerosierung" am Oberschenkelknochen sei aber als "sekundäres Frakturzeichen" zu interpretieren. Eine Reaktion der Knochenhaut sei aber nicht mehr erkennbar. Diese Befunde gehen aus den Klinikunterlagen hervor, die unserer Zeitung ebenso wie die Anwaltsschreiben und die Vorgänge beim Amtsgericht Villingen-Schwenningen vorliegen.

Das MRT, eine Sonographie sowie eine augenärztliche Untersuchung am Dienstag, 10. September, ergeben keine Organverletzungen, Hirnblutungen sowie Retina- oder Glaskörperblutungen, die durch das Schlagen oder Schütteln des Kindes entstanden sein könnten. Sowohl beim MRT als auch bei den Röntgenaufnahmen muss Joy nach Aussage ihrer Eltern sediert werden. Vater Darren darf nur beim MRT mit in den Raum.

Eltern: Es sind Stürze

Die Eltern erklären die Brüche durch Stürze. Als unmittelbares Ereignis vor dem Klinikaufenthalt fällt ihnen zunächst nur ein Abrutschen von einem Küchenstuhl bei Marinas Großmutter am 29. August in Brigachtal sowie ein Stolpern tags darauf ein. In einem Schreiben, das später beim Familiengericht abgegeben wurde, reichen die Eltern drei weitere Sturzereignisse nach.

Nach Rücksprache mit den Ärzten der Rechtsmedizin der Universität Freiburg wird von den Medizinern in Villingen-Schwenningen die "unfallbedingte Entstehung der Frakturen als wenig wahrscheinlich" eingeschätzt. Sie verständigen das Jugendamt. "Das von den Eltern berichtete Sturzereignis (am 30. August/Anm. d. Red.) ist für keine der diagnostizierten Frakturen als adäquates Thema anzusehen", heißt es in dem Entlassbrief.

Von dem Vorwurf der Kindesmisshandlung erfahren Marina und Darren Jenkins in der Klinik eher zufällig. Die Mutter sucht daraufhin das Gespräch mit Matthias Henschen, Chefarzt der Kinderklinik, der ihr zu verstehen gibt, dass man angesichts von fünf vermuteten Brüchen "nicht ohne das Jugendamt" auskomme.

"Wir verstehen, dass es diesen Vorgang gibt. Aber wir wissen nicht, warum wir so hart beurteilt werden", beklagt Marina Jenkins. Von den Brüchen hätten sie nichts mitbekommen, erklären die Eltern. Joy habe zwar nach Stürzen geweint, habe sich dann auch wieder beruhigen lassen. Zudem hätte es bei ihrem Kind, das nach Aussage der Eltern ein geringeres Schmerzempfinden habe, zuvor keine Schwellungen oder eine Schonhaltung gegeben. "Das können wir mit Fotos belegen", sagen sie. Weil es nach dem Armbruch links anders gewesen sei, "sind wir sofort ins Krankenhaus gegangen".

Geglaubt wird ihnen nicht. Am Montag, 16. September, wird Joy durch das Jugendamt in Obhut genommen. Die zuständige Mitarbeiterin des Jugendamtes, die vor dem Familiengericht angibt, die Familie seit eben diesem Tag zu kennen, hatte gemeint: Die Schmerzen bei der aktuellen Fraktur müssten immens gewesen sein. Eine Meinung, die Markus Uhl, Chefarzt der Radiologie im St. Josefs-Krankenhaus in Freiburg, nicht vollständig teilt. "Das Schmerzempfinden von Säuglingen ist anders. Sie können den Schmerz noch nicht so lokalisieren. Das gilt auch für jüngere Kinder. Es muss nicht sein, dass ein Baby dauernd schreit vor Schmerzen." Diese Aussage hatte der Mediziner bei einem anderen Verfahren vor dem Amtsgericht Freiburg im September 2018 zu Protokoll gegeben und auf Nachfrage unserer Zeitung bestätigt.

Auf die Fragen, ob die Meinung von Uhl einen Einfluss auf die Inobhutnahme habe beziehungsweise, ob es nicht notwendig gewesen wäre, die Eltern Jenkins kennenzulernen, bevor ihnen ihre Tochter abgenommen wird, gibt das Jugendamt Villingen-Schwenningen keine Antworten. "Zu laufenden Fällen geben wir aus Datenschutzgründen und insbesondere mit Blick auf den Schutzauftrag des Jugendamts für das Kind keinerlei Auskunft", schreibt Oxana Brunner von der Pressestelle der Stadt VS. Dabei hatte die Klinik im Entlassbrief positiv über die Eltern und den Umgang mit Joy geschrieben. "Die Eltern kümmerten sich liebevoll um ihre Tochter, ihr Verhalten ihnen gegenüber war zutraulich und unauffällig", heißt es in der Mitteilung des Klinikums, das sich nach Anfrage unserer Zeitung aufgrund der Schweigepflicht nicht weiter zu dem Fall äußern will.

Keine Auswirkungen

Auswirkungen hat beides nicht. Obwohl es sein könnte, dass die Eltern von den Brüchen – weil es keine Schwellungen oder Schonhaltungen gegeben haben soll und Joy möglicherweise dies nicht kundgetan hat – nichts mitbekommen haben, verlässt die Eineinhalbjährige das Krankenhaus ohne ihre Eltern. "Selbst wenn Joys Verletzungen aufgrund der geschilderten Vorfälle entstanden sein sollten, was im Rahmen eines Hauptsacheverfahrens durch Sachverständigengutachten zu klären sein wird, stünde noch immer die Gefahr im Raum, dass durch mangelhafte Beaufsichtigung des Kleinkindes dieses sich erneut erhebliche körperliche Verletzungen zuzieht und im Fall des Eintretens solcher Verletzungen durch die Eltern erneut inadäquat reagiert und zu spät oder gar nicht medizinische Hilfe in Anspruch genommen würde", hält das Familiengericht nach der Anhörung am 2. Oktober als Begründung für die Inobhutnahme fest.

Das Jugendamt erklärt dabei vor dem Familiengericht, dass es nach der Meinung der Ärzte in Villingen-Schwenningen und Freiburg, die Verletzungen wären nicht auf Stürze und Unfälle zurückzuführen, keine andere Wahl gehabt hätte, als das Kind in Obhut zu nehmen. Das Familiengericht befindet, dass die Art und Lokalisation der Verletzungen auf eine Misshandlung hingedeutet hätte. Der Erklärungsversuch der Eltern sei nicht geeignet, die Kindeswohlgefährdung auszuschließen.

Von der Entscheidung des Jugendamtes werden Joys Eltern im Klinikum überrumpelt. Sie stimmen der Inobhutnahme zunächst zu, um sie Tage später zu widerrufen und über ihren Anwalt die Rückkehr des Kindes in den eigenen Haushalt zu fordern. "Man hat uns gesagt, dass es keinen Unterschied macht, ob wir zustimmen oder nicht", sagt Marina Jenkins, die am 16. September die Sachen ihrer Tochter noch packt und sie dann mit ihrem Mann zum Haupteingang bringt. "Uns ist gesagt worden, dass wir den Abschied schnell und uns nicht so schwer machen sollen. Wir sollten Joy sagen, dass sie in den Urlaub geht", erzählt sie. Verkraften kann sie es nicht. "Ich habe dann soviel geweint, dass ich zusammengebrochen bin", berichtet sie später.

Hinweise auf eine Aufweichung und Verformung der Knochen beziehungsweise eine verminderte Knochendichte oder auf Glasknochen hat das Krankenhaus nicht ausmachen können. "Das Röntgen ist aber nur eine Möglichkeit, Glasknochen zu diagnostizieren", sagt Marina Jenkins. Sie und ihr Mann wollen eine Erklärung für die Verletzungen finden. Deshalb soll ihr Kind noch bei einem Genetiker untersucht werden, um die Knochenstruktur testen zu lassen.

Osteopath Sven Kempf aus Villingen-Schwenningen, bei dem Joy Jenkins in Behandlung ist, hat nach Aussage der Eltern diagnostiziert, dass das Kind "ein spastisches Gangbild" habe. Dadurch sei das Sturzrisiko von Joy, die die Eltern als "experimentierfreudiges Mädchen" bezeichnen, noch einmal erhöht. "Joy möchte Dinge machen, die außerhalb ihrer altersentsprechenden Möglichkeiten liegen", erklärt Marina Jenkins.

Ein Hinweis, dass die Eltern die Wahrheit sagen und Joys Knochen möglicherweise leicht brechen, gibt es seit Mittwoch, 6. November. Marina Jenkins schreibt an die Redaktion, dass sich Joy bei der Pflegemutter beim "sicheren Abstieg auf dem Bauch vom Sofa" den Knöchel angebrochen habe. Joy sei anschließend beruhigt worden, habe ein Zäpfchen bekommen und anschließend die Nacht durchgeschlafen. Am Donnerstag sei der Fuß geröntgt und der Bruch festgestellt worden. "Sie trägt nun für drei Wochen einen Gips. Dann gibt es eine Nachkontrolle", sagt Marina Jenkins, die die Gesundheitsvorsorge genauso wie das Antrags- und Aufenthaltbestimmungsrecht an das Jugendamt abgeben musste. Einmal pro Woche sehen Marina und Darren momentan ihre Tochter für zwei Stunden wieder. Bei Feiertagen kann es allerdings auch vorkommen, dass neun bis zwölf Tage zwischen den Treffen liegen.

Unbeschwert sind die Umgänge nicht. Seit Joy bei einer Pflegemutter lebt, wirkt sie für ihre Mutter ungepflegt. "Die Haare waren seit Tagen nicht gewaschen und es war bereits getrocknete Creme im Intimbereich", erinnert sie sich an die letzten Wiedersehen. Obwohl sie der Pflegemutter "eine Gebrauchsanweisung" geschrieben hat, wie die Ernährungsgewohnheiten von Joy sind, habe diese sich im Beisein von Marina Jenkins beklagt, dass sie Probleme habe, dass das Kind überhaupt etwas esse. Eine Einschätzung, die die leibliche Mutter nur teilweise teilt. Bei den ersten beiden Treffen habe sie jeweils Vesper mitgebracht. "Joy saß 45 Minuten neben uns und hat gegessen. Das macht sie sonst nicht."

Besonders verärgert sind die beiden, dass eine Verbrennung an der Hand ihrer Tochter nicht sofort, sondern erst zwei Tage später medizinisch versorgt worden sei. "Die Pflegemutter hat von einer Brandblase am Finger gesprochen", sagen Marina und Darren Jenkins. Ein Foto zeigt eine offene Hautstelle auf der Handfläche.

Wann kehrt sie zurück?

Ob und wann Joy Jenkins zu ihren Eltern zurückkehrt, ist genauso offen wie die Zukunft des noch ungeborenen Kindes. Zwar berichtet Marina Jenkins aus einem Gespräch mit dem Jugendamt, dass die Behörde versucht, sie und ihr zweites Kind in einem Mutter-Kind-Heim unterzubringen. "Es scheint in Baden-Württemberg schwierig zu sein, eine passende Einrichtung zu finden", meint sie. Eine zeitnahe Rückkehr von Joy in die Familie scheint momentan nicht möglich. Auch das Anfang Oktober unterbreitete Angebot, Joy könne bei den Großeltern mütterlicherseits leben, werde mehrfach in der Woche zur Kontrolle dem Kinderarzt vorgestellt und könne ohne Vorankündigung vom Jugendamt besucht werden, fand keinen positiven Anklang. "Wir haben schon jetzt das Gefühl, dass unsere Eltern-Kind-Bindung leidet", sagt die Mutter.

Eigentlich, sagt Marina Jenkins zum Abschluss, hätten sie und ihr Mann vier Kinder gewollt. "Wenn ich jetzt nicht schwanger wäre, würde Joy sicher ein Einzelkind bleiben", meint sie und steht auf. Zusammen mit ihrem Mann geht sie in eine ungeklärte Zukunft.

Die Familie Jenkins hat sich trotz des mehrfachen Hinweises des Redakteurs, dass ihr Name anonymisiert werden könnte, dazu entschieden, mit den wirklichen Namen genannt zu werden. Sie haben mehrfach erklärt, dass sie ihr Kind nicht misshandelt haben. Durch den Bericht wollen sie auf ihr Problem aufmerksam machen. Da der Vorgang bisher nur schleppend vorangeht, wissen Marina und Darren Jenkins in der aktuellen Lage nicht weiter.