Netzwerk Betroffener dehnt Suche auf Schwarzwald-Baar-Kreis aus. Indizien, dass Seelsorger dort "gewirkt" hat.
Villingen-Schwenningen - Mal sind es Erinnerungen an Taufbecken, mal an Emporen, die schwer auf der Persönlichkeit liegen. Es geht um sexuellen Missbrauch durch Kirchenverantwortliche und das juristische Aufarbeiten von Taten, die Opfer schon im Kindergartenalter traumatisiert haben. Eine Spurensuche führt auch in das Oberzentrum.
Die erschütternde Geschichte um schwerste psychische wie auch teils physische Verletzungen beginnt mit einem Telefonat. Mit leiser Stimme stellt sich die Frau vor, schnell kreist sie das Thema ein, um das es ihr geht. Sexueller Missbrauch, begangen in Kirchen, in Sakristeien, in von der Kirche angemieteten Räumen oder bei Jugend- und Ministrantenfreizeiten. Sie, die mittlerweile erwachsene Frau, die mit vier Jahren missbraucht worden sei, hat eine Kraft, die sie und ihre Mitbetroffenen antreibt. Sie will Gerechtigkeit, sie will, dass Missbrauchsdelikte aufgearbeitet werden, und sie sucht nach weiteren Betroffenen. Das Netzwerk Betroffener dehnt die Suche auf das Verbreitungsgebiet des Schwarzwälder Boten und den Schwarzwald-Baar-Kreis aus. "Es gibt Indizien", sagt sie vorsichtig, dass ein Seelsorger hier "gewirkt" habe, gegen den im Badischen Ermittlungen gelaufen seien.
Aus Ärger über Pfarrerin Austritt am gleichen Tag
Bei ihrer Spurensuche im Kreis erhoffen sich die Netzwerker auch mögliche Reaktionen von anderen Betroffenen, damit der Ring um den langjährigen Priester enger gezogen werden könne. Der Seelsorger soll sich mehrfach an Kindern und Jugendlichen vergangen haben. Für den Betroffenen Jürgen S., ebenfalls Netzwerk-Mitglied, stellt sich noch eine andere Frage: Stehen die Beschädigungen von Kirchenfenstern an einem Gotteshaus im Oberzentrum in den 90er Jahren in Zusammenhang mit dem sexuellen Missbrauch, der dem Priester vorgeworfen wird? Der Mann war dort vor einigen Jahren tätig gewesen. Sachbeschädigungen habe es auch in anderen Gotteshäusern gegeben, wo der Geistliche, der mittlerweile im Ruhestand ist, im Dienst der Kirche stand.
Jürgen S. und die betroffene Frau zählen zu einem losen Netzwerk Betroffener im Süden Baden-Württembergs. "Wir versuchen uns gegenseitig zu informieren, Erfahrungen mit Kirche und Presse auszutauschen", erzählt S. In ihren persönlichen Schilderungen sprechen die Missbrauchsopfer auch jene Schatten an, die sich seit den Missbrauchsfällen über ihre Seelen gelegt haben. "Wir Betroffene sind ständig re-traumatisierenden Situationen ausgesetzt." Und dies, obwohl die Missbrauchsopfer oft keinen Termin beim Psychotherapeuten bekommen oder monatelang auf einen Therapie-Platz warten müssen. Aus den persönlichen Worten sprechen auch Wut, Verbitterung und Enttäuschung.
14-Jährige aus Kreis auf Empore sexuell missbraucht
Es ist eine Geschichte der drei eindeutigen "Ja": Ja, es habe auch im Kreis sexuelle Missbrauchsfälle durch die Kirchen gegeben; ja, die wenigsten seien angezeigt worden, und ja, eine Aufarbeitung der erschütternden Fälle habe erst vor kurzer Zeit begonnen. Die drei Jas kommen von Menschen, die in Verbänden arbeiten und sich auch um nunmehr Erwachsene kümmern, die keine unbeschwerte Kindheit erlebten: Anja Teubert, Professorin für sozialraumorientierte Soziale Arbeit und lange Jahre Kopf der "Grauzone" (Hilfe bei sexueller Gewalt) sowie Jochen Link, Kreisvorsitzender der Außenstelle des Weißen Rings Schwarzwald-Baar und Volker Bausch, Opferhelfer des Weißen Rings, der sich lange Jahre als Polizist mit dem Missbrauchs-Thema beschäftigen musste. Die drei wissen aus vielen Gesprächen heraus, wie groß die Scham der Opfer ist und die Angst davor, nicht ernst genommen zu werden, wenn sie Missbrauch oder gar Vergewaltigung erlebt haben. "Entsprechend groß ist die Dunkelziffer", so das Fazit. Bausch formuliert es so: "Die Fakten sind da, aber keine Anzeige."
Eine 14-Jährige aus dem Kreis gehörte nicht dazu: An jenem Tag kann das Mädchen nicht mehr, sie steigt aufgelöst und zitternd in den Bus, bricht in Tränen aus und vertraut sich einem Busfahrer an; alles, was ihr widerfahren sei, stülpt sich nach außen. Der Fahrer informiert Eltern und Polizei. Die Sache kommt ins Rollen. Das Mädchen aus dem Kreisgebiet sei auf der Empore einer Kirche sexuell missbraucht worden. Und den anschließenden Recherchen zu Folge ist sie nicht das einzige Opfer gewesen.
Kindern können sich oft nicht anvertrauen
Volker Bausch ist damals der zuständige Kripobeamte. Seine Ermittlungen helfen nicht nur, den Täter zu ermitteln, sondern sie prägen auch seinen ganz persönlichen Blick auf die Kirche: Er tritt aus. Was seinen Ausstieg auslöste, waren seine Emotionen angesichts "der Sturheit" und einem Mantel des Schweigens seitens der Kirche. Was Bausch besonders aufbrachte, sei der Versuch einer Pfarrerin gewesen, das junge Opfer unter Druck zu setzen: Sie solle sich mal Gedanken darüber machen, was mit dem Familienvater passiere, wenn es zu einer Anzeige komme. Für Bausch war die rote Linie überschritten, am gleichen Tag trat er aus der Kirche aus. Vertuschen statt Aufdecken sei die Überschrift über dieses traurige Kirchenkapitel gewesen, so sein Fazit.
Und in der Tat, die Realität ist immer wieder auch eine des vielfachen Verschweigens, nicht nur seitens der Kirchen, sondern auch des sozialen Umfelds. Das wissen Opferschutzvereine und die Betroffenen selbst nur zu gut. "Wohin soll sich denn eine Sechsjährige wenden", zeigt Jochen Link das Dilemma auf, wenn die Eltern die Andeutungen ihres Kindes mit einem "Du spinnst ja" abtun. Das Vertrauen sei verloren, "solche Kinder und Jugendlichen fallen in ein tiefes Loch". Mit Narben fürs Leben. Viele finden nur noch schwer oder gar nicht mehr in ein normales Leben zurück.
Wie bedeutend ist es, den Täter im Gerichtssaal zu sehen? Für die meisten Opfer sei es das Wichtigste, dass die Tat zugegeben wird und ihre Glaubwürdigkeit wieder hergestellt sei. "Jetzt wissen alle, dass ich doch die Wahrheit gesagt habe", entwirft Link ein Profil der Betroffenen. Jürgen S. kann da nur zustimmen. Er hat seine Balance wiedergefunden, trotz traumatisierender Erlebnisse. Seine Erfahrungen mit der Kirche sind negativ: "Es wird gelogen, dass sich die Balken biegen." Seine Kirchenklage aus dem Jahr 2010 sei bis heute unauffindbar und trotz nachgereichter Kopien nicht beantwortet. Seit Jahren prangert S. auch die "Manipulation und das Verschwindenlassen von Missbrauchsakten" an. Für viele Betroffene liegen die meisten Taten schon Jahrzehnte zurück, bei einigen kommen die Erlebnisse wieder, wenn sie selbst Eltern werden. Wie sieht es mit der Gerechtigkeit nach Jahrzehnten aus? Die Verjährung bei schwerem sexuellen Missbrauch beginnt seit ein paar Jahren ab dem 30. Lebensjahr und dauert mindestens 20 Jahre: Wer mit vier Jahren vergewaltigt wurde, hat somit eine Chance, noch im Alter von 50 Jahren Anzeige zu erstatten, klärt Anwalt Link auf.
Vertuschung seit Jahren kein Thema mehr
Wie reagieren die Gescholtenen, die Kirche, auf die Kritik? In der Erzdiözese Freiburg, hieß es aus der Pressestelle, habe es zwischen 1946 bis 2014 insgesamt 190 des Missbrauchs beschuldigte Geistliche gegeben. Eine Zuordnung zu bestimmten Gebieten sei nicht erfolgt. "Daher kann weder bestätigt noch ausgeschlossen werden, dass es auch im Schwarzwald-Baar-Kreis und in der Region Villingen-Schwenningen in diesem Zeitraum zu sexuellem Missbrauch durch Geistliche gekommen ist."
Seit 2010 gebe es einheitliche Richtlinien für den Umgang mit Missbrauchs-Fällen. "Vertuschung ist seit langem praktisch ausgeschlossen", heißt es aus Freiburg. Es gebe zudem umfangreiche Präventionsmaßnahmen. Umfangreich fällt auch die Stellungnahme aus der Diözese Rottenburg-Stuttgart aus. In der Diözese sei 2002 eine Kommission sexueller Missbrauch (KsM) gegründet worden, die konkrete Hinweise zu Missbrauchsfällen entgegennehme und diesen nachgehe. "Wenn es gewünscht wird, stellen wir den Kontakt zur Staatsanwaltschaft her und unterstützen die Betroffenen bei der Anzeige", heißt es. Was den örtlichen Bezug von Taten anbelangt, will man keine Informationen geben, dafür wird auch hier bekräftigt: In der Diözese werde allen Vorwürfen nachgegangen wird, "so dass keinesfalls von Vertuschung gesprochen werden kann".
Weitere Informationen: betroffene.helfen.betroffenen@web.de