Holger Urbainczyk berät Spielsüchtige in der Fachstelle Sucht in Villingen. Er weiß, wie sich seine Klienten fühlen: Er war selbst jahrelang spielsüchtig – bis er irgendwann vor der Wahl "Leben oder Sterben" stand. Foto: Hanauer Foto: Schwarzwälder-Bote

Holger Urbainczyk bietet Spielabhängigen in der Fachstelle Sucht Hilfe / Sozialarbeiter kennt Situation aus eigener Erfahrung

Von Julia Christiane Hanauer

Schwarzwald-Baar-Kreis. Holger Urbainczyk arbeitet als Berater für Glücksspielsucht in der Fachstelle Sucht in Villingen und Rottweil. Wie es den Betroffenen geht, weiß er genau – denn er war selbst jahrelang Spieler.

Es ist mitten in der Nacht, gleich wird das Gehalt überwiesen. "Heute gehe ich nicht spielen", ist der feste Vorsatz von Holger Urbainczyk. Doch keine fünf Minuten später macht er sich auf den Weg in die Spielhalle, verzockt sein Geld, bis nichts mehr da ist. "Wenn das Geld auf dem Konto war, war es wie bei einem Roboter, der einfach losmarschiert", beschreibt Urbainczyk. "Es ist eine Last von mir abgefallen, wenn das Geld weg war und ich nichts mehr zum Spielen hatte."

Jahrelang geht das so. Meist hat er zum Monatsende hin nicht mehr zum Leben als Weißbrot, Kaffee, Marmelade und Zigaretten. Urbainczyk nimmt Kredite auf, um seine Rechnungen zu bezahlen, doch wieder wandert das Geld in den Automaten. Die Schulden steigen und steigen. Seine Miete kann er schon längst nicht mehr bezahlen. Der Süchtige lebt in ständiger Angst vor den Gerichtsvollziehern und den Vermietern. Im Dunkeln verlässt er das Haus und kehrt auch erst bei Dunkelheit wieder zurück. Fernsehen schaut Urbainczyk nur mit Kopfhörern und verschlossenen Jalousien, damit niemand bemerkt, dass er zu Hause ist. Etwa alle neun Monate muss er umziehen.

Der höllische Kreislauf, durch den Holger Urbainczyk jahrelang wie im Hamsterrad rennt, beginnt bereits im Alter von 14 Jahren. Damals, in den 1980er-Jahren, spielt er fast täglich eine Stunde in der Gaststätte seines Bruders am Automaten. Um Geld zu spielen, war dem Jugendlichen nicht unbekannt. "In meiner Familie haben wir bei Spielen immer auch um Geld gespielt."

Als er 18 Jahre alt ist, füttert er die Automaten in der Spielhalle mit Geld. Er verspielt an drei bis vier Tagen im Monat alles und nimmt bereits mit 18 Jahren den ersten Kredit auf.

Die erste Kehrtwendung gibt es, als Urbainczyk mit 20 Jahren straffällig wird. Damals diagnostiziert ein Gutachter Spielsucht, seine Frau teilt ihm ab diesem Zeitpunkt das Geld zu. Sechs Jahre hält er durch, ohne zu spielen. Dann geht es nach und nach wieder von vorne los. Auf dem spielerischen Höhepunkt verlässt er seine Frau.

Die sozialen Kontakte brechen zusammen. Das einzige, was er all die Zeit über aufrechterhalten kann: Seinen Arbeitsalltag, denn nur so kommt er an Geld, um die Sucht zu befriedigen. "Arbeit ist das Letzte, was kaputt geht", sagt der gebürtige Bielefelder. Vor seinen Kollegen kann er seine Abhängigkeit verbergen. "Als Spieler kannst du Geld verschieben, lügen und betrügen bis zur Perfektion", beschreibt Urbainczyk.

Die Spielsucht hinterlässt in der Psyche tiefe Schäden: Über die Jahre hinweg hat Holger Urbainczyk tiefe Depressionen, er ist suizidgefährdet.

2003 ist das Jahr, in dem sich sein Leben schließlich grundsätzlich ändert: Urbainczyk lässt sich in eine psychosomatische Klinik einweisen. In den knapp elf Wochen seines Aufenthalts setzt er sich intensiv mit seinem Leben auseinander, stellt sich selbst vor die Wahl: Leben oder Sterben. Er entscheidet sich für das Leben. "Der Druck zu spielen war weg", erinnert sich der heute 46-Jährige.

In dieser Zeit sucht er auch nach Erklärungen für seine Sucht. Er sei immer auf der Suche gewesen, habe immer den Wunsch gehabt, nach Hause zu kommen. Sein Vater verstarb, als er zehn Jahre alt ist. Urbainczyk vermutet heute, dass ihm der väterliche Halt gefehlt hat. Einen letzten Rückfall erleidet er am 1. Mai 2004. "Danach habe ich nie wieder gespielt."

Urbainczyk wagt einen Neubeginn, geht mit 45 000 Euro in die Privatinsolvenz, aus der er heute draußen ist. Nach eigenen Schätzungen hat er rund 300 000 bis 400 000 Euro verspielt. Er zieht nach Baden-Württemberg, lernt vor fünf Jahren seine heutige Frau kennen, mit der er eine dreijährige Tochter hat. "Die Beiden sind das Größte in meinem Leben."

Ein Mal pro Jahr bekomme er noch einen Rückfall, erzählt der Sozialarbeiter. Doch anstatt das Geld, das er gerade bei sich trägt, in den Automaten zu stecken, investiert er es heute in Spielzeug für seine Tochter. Ansonsten hat er die Sucht im Griff, sagt aber auch: "Ich bin ein Spieler ein Leben lang, aber ich habe gelernt, mit der Sucht zu leben."

Vor genau einem Jahr schloss er an der Hochschule Heidelberg sein Studium der Sozialarbeit ab. Während des Studiums hatte er ein Praktikum bei der Fachstelle Sucht in Tuttlingen absolviert, wo er einen Vortrag über Glücksspiel und sein Leben gehalten hatte.

So entstand der erste Kontakt. 2012 gründete er in Rottweil die Selbsthilfegruppe für Spielsüchtige und bekam eine Stelle in der Fachstelle Sucht in Villingen und Rottweil. "Ich bin sehr dankbar, dass ich hier arbeiten kann."

In seinen Beratungsstunden bietet er Spielsüchtigen und deren Angehörige Unterstützung an. Etwa 20 Klienten betreut er momentan in Villingen, acht davon seien Frauen. "Der weibliche Anteil bei Spielsüchtigen nimmt zu", stellt Urbainczyk fest. Warum, das kann er sich auch nicht erklären.

Viel Wert legt der Sozialarbeiter aber nicht nur auf die Betreuung von Süchtigen, sondern auch deren Angehörigen. Denn diese würden oft die Schulden des Süchtigen bezahlen oder ihn decken – eine gut gemeinte Hilfe, die dem Süchtigen jedoch nicht helfe.

Die von Holger Urbainczyk gegründete Selbsthilfegruppe in Villingen trifft sich jeden Montag ab 18.15 Uhr in der Fachstelle Sucht Villingen, Großherzog-Karl-Straße 6. Informationen gibt es unter 07721/8 78 64 60.

Die Selbsthilfe Rottweil kommt jeden Mittwoch um 19 Uhr, in der dortigen Fachstelle Sucht, Schramberger Straße 23, zusammen. Informationen gibt es unter Telefon 0741/8 08 20.

Weitere Auskünfte sind im Internet unter www.bw-lv.de/beratungsstellen abrufbar.