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Stuttgart 21: Polizei präsentiert Videos zum Polizeieinsatz - Deeskalationskräfte kamen spät.

Stuttgart - Manchmal reicht ein einziger Satz, um das ganze Dilemma in Worte zu fassen. "Wir wollen Ihnen heute zeigen, wie der Einsatz geplant war und wie er tatsächlich gelaufen ist." Siegfried Stumpf, Polizeipräsident von Stuttgart, macht am Dienstagmorgen im Landtag kein Hehl daraus, dass am 30. September - dem schwarzen Donnerstag von Stuttgart - ganze Welten zwischen Wunsch und Wirklichkeit lagen.

Nun, knapp zwei Monate nach den massiven Ausschreitungen zwischen den Stuttgart-21-Gegnern und der Polizei, beginnt also die parlamentarische Aufarbeitung. Es ist die erste öffentliche Sitzung des Untersuchungsausschusses, und die Landtagsabgeordneten müssen das tun, was sie sonst selten tun dürfen: Filme anschauen.

Gegner formieren sich schneller als die Polizei denkt

Fast drei Stunden führen Stumpf und seine engsten Mitarbeiter im Landtag unzählige Ausschnitte vom Polizeieinsatz jenes Tages in Stuttgart vor. Auf der Zuhörertribüne sitzen nicht nur Sympathisanten der Projektgegner, sondern auch Schulklassen. Und sie alle sehen, wie sich die Stimmung an jenem Tag von Minute zu Minute hochgeschaukelt hat. "Unsere Absicht war es, in den Schlossgarten zu kommen, eine Polizeikette zu bilden, den Gitterzaun aufzubauen und Personen aus dem abgesperrten Bereich herauszubringen", referiert Stumpf noch einmal den Arbeitsauftrag und fügt hinzu: "So etwas geht schnell, wenn's gut läuft".

Die Fahrzeugfolge im Polizeikonvoi bestätigt die geplante Vorgehensweise: vorne die Transporter mit den Absperrgittern, dahinter ein Wagen mit Lichtmasten, gefolgt vom Wasserwerfer für die Sicherung in der Nacht. Aber es läuft eben nicht gut an jenem Tag. Denn die Gegner formieren sich dank SMS und Twitter viel schneller, als die Polizei ihren Plan ändern und die Gitter aufstellen kann. Die Filmsequenzen beweisen das. "Hier gibt's eine schöne Blockade, beteiligt euch daran", hallt es aus Megafonen im Schlosspark.

Polizei wurde nicht ernst genommen

Die Polizei, das wird bei der Sichtung der Filme deutlich, wird an jenem Tag nicht ernstgenommen. Man habe die Demonstranten "rund 50-mal" aufgefordert, die Blockaden von Wegen und Fahrzeugen zu beenden, erinnert sich ein Polizeiführer. Ohne Erfolg. Auch der Hinweis aus Lautsprecherwagen an die Demonstranten, ihr Verhalten sei rechtswidrig, hilft nicht. Kaum abgedrängt, tauchen die Gegner an anderen Stellen wieder auf. Es kommt zu Handgreiflichkeiten und Beleidigungen.

Sprechchöre wie "Haut ab" oder "Wir sind friedlich, was seid ihr?", schlagen der Polizei entgegen. Kurz vor 12 Uhr, so erinnert sich ein Einsatzleiter, "war es nicht mehr möglich, die Leute wegzutragen oder wegzudrücken". Wenig später gehen die Wasserwerfer in Aktion. Aber selbst das schreckt manche noch nicht ab. So zeigen die Einsatzvideos deutlich, wie sich der Mann, der später mit schweren Augenverletzungen in die Klinik kam, mehrfach mit ausgebreiteten Armen vor den Wasserwerfer stellt und sich eine Mutter mit ihren beiden Kindern direkt vor ein solches Ungetüm setzt.

Deeskalationskräfte kamen erst am Nachmittag

Aber wie konnte es überhaupt zu der ganzen Eskalation kommen? Die Menschenmassen hätten "hohen psychischen Druck" erzeugt", sagt ein Polizeibeamter. Wieso aber gelang es nicht, den Konflikt zu vermeiden oder ihn während des Einsatzes zu entschärfen? Die Deeskalationskräfte, das räumt Stumpf ein, waren nicht am Mittag, sondern erst am Nachmittag vor Ort. Da war es schon zu spät. Ist das ein Hinweis darauf, dass die Räumung des Schlossgartens ohne Rücksicht auf Verluste vorgenommen werden sollte? Die Zeugenvernehmungen in den nächsten Wochen müssen das klären.

So geht die erste Sitzung ohne neue Erkenntnisse, aber mit ungewohnten Einblicken zu Ende. Aus Sicht des Grünen-Politikers Ulrich Sckerl waren das Vorgehen der Projektgegner und ihr Widerstand gegen die Polizei nicht falsch. "Das ist gelebte demokratische Kultur seit vielen Jahrzehnten." Die Vertreter von CDU und FDP schütteln staunend den Kopf. Auch SPD-Obmann Andreas Stoch mag die Sichtweise des Grünen nicht teilen: "Man kann für seine Meinung auf die Straße gehen. Aber es gibt genügend Möglichkeiten, die nicht strafbar sind."