Endspurt: Boris Palmer beim Tübingen-Lauf Ende September. Foto: Imago

Vor OB-Wahl in Tübingen sieht sich Amtsinhaber mit Imagefragen konfrontiert. Herausforderin Soltys moniert Verkehrspolitik.

Tübingen - Er ist passionierter Radfahrer; vor über 30 Jahren fuhr er sogar Straßenrennen. Und er kommt aus dem Albstädter Ortsteil Onstmettingen, dürfte also mit großer Wahrscheinlichkeit zu den periodischen Gästen des Nägelehauses zählen, jener Höhengaststätte auf dem Raichberg, die vor Kurzem durch einen Besuch von Boris Palmer (Grüne) in die Schlagzeilen geriet. Nun will er selber Tübinger Oberbürgermeister werden. Diese drei Dinge hat Hermann Johannes Sassmannshausen mit Palmer gemeinsam.

Ansonsten trennt die beiden viel. Palmer ist seit Jahr und Tag Berufspolitiker, Sassmannshausen Lagerist. Sein Entschluss, sich um den Tübinger OB-Posten zu bewerben, dürfte primär einer tiefempfundenen Abneigung gegen den Amtsinhaber geschuldet sein: Boris Palmer, sagt Sassmannshausen, schade Tübingen. Wodurch? Durch Besserwisserei - siehe Nägelehaus - und mangelnde Bereitschaft, sich auf den Bürger einzulassen: Ein OB müsse mit den Leuten reden und ihnen zuhören. "Palmer hört nur bestimmten Leuten zu und regiert über die Köpfe aller anderen hinweg." So mancher in Tübingen wird diese Sicht der Dinge teilen, ohne deshalb am Sonntag Sassmannshausen zu wählen.

Gerade nach einem Wahlkampf, wie der 42-jährige Palmer ihn in diesen Tagen und Wochen führt - oder führen muss. Denn seine Lust hält sich sichtlich in Grenzen ("ich bin froh, wenn’s rum ist"), was daran liegt, dass es aus Sicht des Tübinger Oberbürgermeisters keine echten Wahlkampfthemen gibt, und seine Herausforderin, die von der CDU und der FDP unterstützte, parteilose Fellbacher Baubürgermeisterin Beatrice Soltys (48) "nichts Konkretes" anzubieten habe.

Höchste Kita-Quote in den alten Bundesländern

Und er selbst muss sich ständig erklären. Dabei sollten die Erfolge, die er nach acht Jahren an der Spitze der 84.500-Einwohner-Stadt vorweisen kann, doch für sich sprechen: Verdreifachung der Gewerbesteuereinnahmen, schuldenfreier Haushalt, deutlicher verringerter CO2-Ausstoß, höchste Kita-Quote in den alten Bundesländern, Bevölkerungswachstum, 5000 Arbeitsplätze. Man kann eigentlich gar nicht anders, als ihn wählen. Der studierte Mathematiker demonstriert dies scherzhaft im Stile eines wissenschaftlichen Beweises: "Tübingen erlebt einen ökologisch-sozialen Aufschwung. Wer glaubt, das hat mit mir zu tun, sollte mich wählen. Wer glaubt, das hat nichts mit mir zu tun, sollte mich auch wählen. Denn es ist unwahrscheinlich, dass jemand anders acht Jahre die Verwaltung so wenig bei der Arbeit stört und dabei solche Erfolge erzielt."

Was sein Beweis nicht enthält, sind weiche Faktoren wie Stil und Emotionen. Angeblich wird darüber in Tübingen so viel diskutiert wie über seine Erfolgsbilanz. Dem Oberbürgermeister wird vorgeworfen, als Oberlehrer aufzutreten. Es heißt, er wolle die Bürger zu ihrem Glück zwingen - etwa in der Verkehrspolitik. Bürger stören sich daran, dass er Verkehrssünder fotografiert und das Vergehen auf Facebook postet.

Man wundert sich, dass er ins Wahlkampfbüro seiner Kontrahentin Soltys platzt, weil diese ihren Mercedes auf einer Bushaltestelle abgestellt hat. Der zufällig anwesende Berichterstatter der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" notierte die Worte: "Was Sie da machen, Frau Soltys, das ist genau das, was bei uns in Tübingen überhaupt nicht geht." Seitdem fällt es Soltys noch leichter zu sagen: "Wenn Palmer abgewählt wird, dann wegen seiner Art."

Sie selbst glaubt daran. Natürlich gebe es auch inhaltliche Gründe für einen Wechsel, sagt Soltys - angefangen von Palmers "autofeindlicher Haltung". Dass Tübingen so gut dastehe, habe im Übrigen viel mit dessen Vorgängerin, Brigitte Russ-Scherer (SPD) zu tun, die er 2006 mit 50,4 Prozent der Stimmen im ersten Wahlgang bezwang.

Herausforderin geht das zu weit

Palmer, der als einer der klügsten politischen Köpfe des Landes gilt, weiß um die diffuse Anti-Stimmung. Um seine Anhänger zu mobilisieren, hat er ankündigt, nur für einen Wahlgang antreten zu wollen. Verstehen kann er das Unbehagen allerdings nicht. Er erklärt es sich als Nebenwirkung seiner direkten Art, Politik zu machen. Statt die Stadt zu repräsentieren, geht er lieber in der Stadt spazieren, sucht das Gespräch und bisweilen die Konfrontation - auch via Facebook, wo seine Gemeinde auf 12.000 Nutzer angewachsen ist. "Anders erreicht man viele junge Leute gar nicht mehr", sagt Palmer. Seiner Herausfordererin geht das zu weit: "Ich halte nichts davon, dass ein Oberbürgermeister seine Privatmeinung permanent über Facebook kundtut." Bürgernähe muss nach ihrer Meinung anders aussehen.

Bestes Beispiel ist eben die inzwischen legendäre Apfelschorle-Story, mit der Palmer jüngst bundesweit Schlagzeilen machte. Nach einer Radeltour wollte er auf der Terrasse der Nägeleshauses bei Onstmettingen ein Apfelschorle und ein Vesper genießen. Drinnen war es voll, draußen schien die Sonne. Die Terrasse war aber bereits zu. Obwohl Palmer anbot, das Schorle selbst nach draußen zu tragen, wies der Wirt sein Ansinnen ab ("Sie kriaget nix. Fertig."), worüber sich Palmer erregte: "Wenn mr aufm Rathaus so schaffa dät wie hier, dann dätet ihr mit der Mistgabel nauf ganga."

Jetzt sitzt Palmer im "Ludwigs" und nippt an einem großen Apfelschorle. Seine Worte sprudeln. Fragen, auch persönlicher Art, beantwortet er offen. Ja, sagt er, unter dem hohen Arbeitseinsatz - anfangs 100 Stunden pro Woche - habe sein Privatleben gelitten; seine vierjährige Tochter lebt heute bei der Mutter in Berlin. So oft wie möglich versuche er, sie zu sehen. Auch gesundheitliche Folgen machen sich bemerkbar: Durch das viele Sitzen spürt er’s im Rücken. Bei der Frage nach seinem Vater, dem 2004 verstorbenen Remstal-Rebellen Helmut Palmer, stockt der Redefluss. "Klar vermisse ich ihn", sagt der noch immer jungenhaft wirkende Chef von 2100 Mitarbeitern leise. Der große Querkopf hat sein Leben geprägt.

Gespräche mit Palmer sind ein Gewinn - auch weil sie über den Kirchturm der Tübinger Stiftskirche hinausreichen. Natürlich kommt Winfried Kretschmann darin vor, der grüne Ministerpräsident, mit dem ihn ein enges Vertrauensverhältnis verbindet, was sich darin zeigte, dass Kretschmann in den Schlichtungsgesprächen zu Stuttgart 21 auf ihn setzte.

Gleichzeitig macht Palmer keinen Hehl daraus, dass er mit manchen Positionen der Grünen-Bundestagsfraktion Probleme hat - zuletzt, als führende Vertreter Kretschmann wegen dessen Zustimmung zum Asylkompromiss angingen. Für Palmer ist das "Pippi-Langstrumpf-Politik nach dem Motto: Ich mache mir die Welt, wie sie mir gefällt."

Bei sich selbst stellt er die gegenläufige Entwicklung fest: vom Idealisten zum Pragmatiker. Das geht so weit, dass bundesweite Medien über das grüne Idyll am Neckar spotten. Nach einem Stadtrundgang mit Palmer schrieb der Autor Moritz von Uslar im "Zeit"-Magazin: "Das grüne, so erfolgreiche Modell hat ein neues Biedermeier hervorgebracht, den Tübinger Öko-Spießer."

Niemals Leuten nach dem Mund reden

Oft zitiert wird sein Satz: "Wenn Spießer heißt, dass ich nicht gutfinde, wenn Bierflaschen kaputtgehen und man auf dem Spielplatz über Drogenspritzen stolpert, dann bin ich gerne Spießer." Der aufmüpfige Zug allerdings bleibt, Spießer hin oder her. Niemals werde er den Leuten nach dem Mund reden, sagt Palmer klipp und klar. Der Vater schimmert durch. Auch hier.

Der Mittagstisch im "Ludwigs" ist beendet. "Krieget mir no was zum Trinka?", ruft Palmer der Bedienung zu. "Auch auf der Terrasse?" Sie grinst. "Klar doch, Herr Palmer!" Die Nachwirkungen des verweigerten Apfelsaftes. Die Geschichte ist zu einem Running Gag geworden.