Heiner Geißler hat die "Basta"-Entscheidungen bei Stuttgart 21 kritisiert. Nur welche meint er? Foto: dpa

Ist das Bahnprojekt wirklich durch "Basta-Entscheidungen" zustande gekommen? Ein Rückblick.

Stuttgart - Das Bahnprojekt kam durch "Basta-Entscheidungen" zustande, kritisiert Stuttgart-21-Schlichter Heiner Geißler. Regierungschef Stefan Mappus schlägt in dieselbe Kerbe. Eine kurze Analyse zeigt aber: Echte Basta-Beschlüsse sind bei dem Milliardenprojekt die Ausnahme.

Staatliche Entscheidungen bei solch gravierenden Projekten ohne Einbindung der Bürger gehörten dem "vorherigen Jahrhundert" an, kritisierte Geißler am Wochenende. Sein akuter Auftrag zur Konfliktschlichtung sei "ein deutliches Signal dafür, dass in Deutschland die Zeit der Basta-Entscheidungen vorbei ist".

"Jahr für Jahr muss man die Leute mitnehmen und erklären, warum das Projekt notwendig ist", sagte am Montag Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU) und bekräftigte Geißlers Urteil. "Basta war Schröder, nicht Mappus", ergänzte Baden-Württembergs CDU-Generalsekretär Thomas Strobl und erinnerte damit an den Wortschöpfer der "Basta-Politik".

Gegenwehr kam am Montag von Ulms OB Ivo Gönner (SPD). Geißler wolle den Eindruck erwecken, Stuttgart21 sei "undemokratisch und unrechtsstaatlich" beschlossen, kritisierte Gönner: "Ich halte das für eine undemokratische Bemerkung."

Wo liegt die Wahrheit? Eine Analyse unserer Redaktion zeigt, wo es in der Geschichte von Stuttgart21 Basta-Entscheidungen gegeben hat - und wo nicht.

 18.April 1994:

Bahn-Chef Heinz Dürr, Ministerpräsident Erwin Teufel (CDU) und Stuttgarts OB Manfred Rommel (CDU) präsentieren im Landtag die Idee, Stuttgart mit einem Durchgangsbahnhof an den Flughafen und die künftige ICE-Strecke nach Ulm anzuschließen. Vor der Grundsatzentscheidung hat die Bahn jahrelang intern Varianten auf die Alb geprüft. Anfang 1995 bestätigt eine Studie die technische Machbarkeit des Tiefbahnhofs und der Tunnel. Im November 1995 unterzeichnen Bahn, Land und Stadt den ersten Vertrag zur Realisierung von Stuttgart 21. Diese Rahmenvereinbarung steht unter Gremienvorbehalt - das heißt, dass die Parlamente von Land und Stadt sowie der Bahn-Aufsichtsrat zustimmen müssen, erst so wird der Vertrag rechtskräftig. Fazit: Die ersten Schritte von Stuttgart 21 geben klar eine Richtung vor; das letzte Wort haben aber nicht die Bosse.

4.November 1997:

Der Düsseldorfer Architekt Christoph Ingenhoven gewinnt den Architektenwettbewerb um den Bahnhofsneubau. An dem Wettbewerb hatten sich 118 Büros mit unter- und oberirdischen Entwürfen für einen Stuttgart-21-Bahnhof beteiligt. Die 23-köpfige Jury spricht sich einstimmig für Ingenhoven aus. Fazit: ein fairer Wettbewerb; keine Spur von Basta.

5.Juli 1999:

Bei einem Spitzengespräch in der Villa Reitzenstein versetzt Bahn-Chef Johannes Ludewig Regierungschef Teufel und OB Wolfgang Schuster den Tiefschlag: "Ich will diese Sache nicht!" Mit diesem Machtwort beendet Ludewig monatelange Spekulationen um die Finanzierbarkeit des Gesamtprojekts. Ludewig will nur an Stuttgart21 festhalten, die ICE-Trasse Wendlingen-Ulm steht für ihn in den Sternen. Ludewig weiß: Weil dem Land die Strecke viel wichtiger ist als Stuttgart 21, droht Teufels "Jahrhundertprojekt" de facto das Aus. Die Bahn kann bei den folgenden Finanzgesprächen in Baden-Württemberg auch deshalb so hart auftreten, weil Teile des DB-Aufsichtsrats Stuttgart21 misstrauen und das Projekt noch nicht die Freigabe des Kontrollgremiums erhalten hat. Fazit: Auch wenn der Manager Ludewig im September 1999 seinen Sessel für Hartmut Mehdorn räumen muss: Sein Machtwort vom 5.Juli 1999 ist das erste echte Basta in der Stuttgart-21-Historie.

Verwaltungsgericht hält die Aktion für rechtlich höchst fragwürdig

2.Juli 2001:

Die Projektpartner Bahn, Land, Stadt und Region schließen eine neue Vereinbarung zu Stuttgart21 und der ICE-Strecke Wendlingen-Ulm ab. Dabei werden die neuen Finanzierungsanteile dem Grundsatz nach festgelegt: Das Land beteiligt sich indirekt an der Finanzierung der Strecke, was an sich eine reine Bundesaufgabe wäre. Die Stadt kauft der Bahn diejenigen Grundstücke ab, die nach der Fertigstellung von Stuttgart21 von Gleisen geräumt werden. Auch dieser Vertrag ermöglicht noch jedem Partner den Ausstieg. Er wird erst gültig, wenn alle Gremien - der Landtag, der Stuttgarter Gemeinderat, die Regionalversammlung sowie der Aufsichtsrat der Bahn - zugestimmt haben. Fazit: Es wird erstmals sichtbar, dass Stuttgart21 für die Baden-Württemberger sehr teuer wird. Trotzdem ist das demokratische und parlamentarische Zustandekommen des Vertrags einwandfrei.

7.April 2003:

Im Kursaal in Bad Cannstatt beginnt die öffentliche Erörterung der Bahnpläne für den ersten Planungsabschnitt von Stuttgart21. Es geht um den Tiefbahnhof, bei der ersten Erörterung geht es aber auch um die Begründung des Gesamtvorhabens. Die Erörterung ist jedem zugänglich und wird von Hunderten Zuschauern verfolgt. Auf dem Programm stehen die Themen: Alternativen zur Planung, Raumordnung, kommunale Belange, Lärm, Erschütterungen, Luft und Klima, Natur, Landschaft, Bodenschutz, Kulturgüter, Eisenbahnbetrieb, Wasser-, Land- und Forstwirtschaft sowie bauliche Einzelmaßnahmen. Die Bürgerinitiative Leben in Stuttgart - Kein Stuttgart 21, der Bund für Umwelt und Naturschutz (BUND) und der Verkehrsclub Deutschland wollen Stuttgart21 in dem öffentlichen Verfahren zu Fall bringen. Das gelingt ihnen nicht. Der Planfeststellungsbeschluss (Baugenehmigung) ergeht am14.Februar 2005. Der BUND und zwei Bürger reichen Klage ein. Am 6.April 2006 weist der baden-württembergische Verwaltungsgerichtshof diese ab. Seitdem ist der Planfeststellungsbeschluss 1.1 rechtskräftig. Fazit: Das Planfeststellungsverfahren und das folgende juristische Klageverfahren haben zu einer klaren, unabhängigen Gesamtentscheidung geführt. Kein Basta.

19.Juli 2007:

Im Berliner Verkehrsministerium unterzeichnen Hausherr Wolfgang Tiefensee (SPD), Ministerpräsident Günther Oettinger, OB Wolfgang Schuster (beide CDU) und Bahn-Chef Hartmut Mehdorn den Vorvertrag zur Finanzierung von Stuttgart21. Er lastet den Partnern noch höhere Lasten und ein Mehrkostenrisiko auf. Fazit: kein Basta.

4.Oktober 2007:

Die Mehrheit von CDU, SPD, FDP und Freien Wählern im Gemeinderat stimmt dem Berliner Vertrag zu. Tags darauf, am 5.Oktober 2007, unterzeichnet OB Schuster einen Vertrag in der Villa Reitzenstein, mit dem die Stadt dem Land alle weiteren Projektvollmachten abtritt. Mit dem Schachzug will Schuster den von Projektgegnern und den Grünen angekündigten Bürgerentscheid vorsorglich entschärfen. Fazit: ein klares Basta von Schuster.

20.Dezember 2007:

Der Gemeinderat lehnt den geforderten Bürgerentscheid mehrheitlich ab, obwohl die Projektgegner 61193 gültige Unterschriften vorlegen. Die Gegner ziehen vor Gericht. Am 17. Juli 2009 weist das Verwaltungsgericht Stuttgart die Klage ab. Fazit: Der Bürgerentscheid war nicht möglich, das akzeptieren sogar die Gegner.

2. Februar 2010:

Im Hauptbahnhof beginnen die Bauarbeiten. Das liegt im Ermessen der Deutschen Bahn als Bauherrin von Stuttgart21. Kein Basta.

21.Juni 2010:

Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer (CSU) lässt gegen Bedenken der obersten Genehmigungsbehörde Eisenbahnbundesamt einen künftigen ICE-Verkehr in den S-Bahn-Tunneln in Echterdingen zu. Das erspart der Bahn Umplanungen und Umbauten in Höhe von 80 Millionen Euro. Fazit: ein klares Basta von Ramsauer.

1.Oktober 2010:

Die Bahn lässt zu frühestmöglicher Stunde im Schlossgarten die ersten Bäume für Stuttgart21 fällen. Das Verwaltungsgericht hält die Aktion für rechtlich höchst fragwürdig - schließlich fehlen wesentliche Nachweise im Bereich Naturschutz. Die Bahn argumentiert, es habe kein Verbot zur Abholzung gegeben. Fazit: Das Vorgehen der Bahn klingt stark nach Basta.