Nach der Messerattacke im Rottweiler Jobcenter sind zahlreiche Einsatzkräfte vor Ort. Die Mitarbeiterin wird im Gebäude notärztlich versorgt. Foto: Otto

Von Corinne Otto

Von Corinne Otto

Während es unter anderem in Bremen und Bayern noch keinerlei Statistik zu Messerangriffen gibt, erfassen einige Bundesländer diese Daten bereits.

n  Baden-Württemberg 2014 gab es 5534 Messerstraftaten, 2018 waren es 6073. Als Tatmittel "Messer" gelten in dieser Auswertung auch Ahle, Bajonett, Butterflymesser, Dolch, Haushalts-/Küchenmesser, Klappmesser, Spring-/Fallmesser, Stilett und Taschenmesser. "Im Fünfjahresvergleich wird deutlich, dass die Fälle der Gewaltkriminalität unter Verwendung des Tatmittels Messer um 24,6 Prozent angestiegen sind", zitiert die "Bild" einen Sprecher des Ministeriums für Inneres, Digitalisierung und Migration Baden-Württemberg. Darüber hinaus stiegen im Fünfjahresvergleich die gefährlichen und schweren Körperverletzungen im Zusammenhang mit dem Tatmittel Messer um 34,0 Prozent an und Fälle der Straftaten gegen das Leben um 23,6 Prozent – "bei zuletzt insgesamt rückläufigen Fallzahlen".

n NRW Laut "Gesamtjahresbilanz der Messerstraftaten 2019", die am Donnerstag im Innenausschuss des Landtags von NRW vorgestellt wurde, gab es im Jahr 2019 in dem Bundesland insgesamt 6827 Fälle, in denen ein Messer Tatmittel war. 6736 Tatverdächtige wurden erfasst, davon waren 4091 Deutsche. 2645 besaßen nicht die deutsche Staatsangehörigkeit. Vergleichszahlen sind schwer zu finden. NRW hatte im Vorjahr noch keine Statistik aufgestellt.

n Berlin 2019 wurden 2795 Straftaten mit Messern begangen, laut Berliner Polizei der höchste Wert seit Beginn der Auswertungen 2009. 2013 waren es noch 2512 Taten. n Thüringen 2013 gab es 703 Angriffe mit Messern, 2018 waren es 986 Angriffe. Vier Angriffe wurden als Mord gewertet, zwölf als Totschlag.

Rottweil. Ein Hubschrauber landet, Rettungsfahrzeuge und ein Großaufgebot der Polizei sind vor Ort, eine schwer verletzte Frau wird von Mitarbeitern des DRK aus dem Gebäude getragen: Diese Szenen spielen sich am Donnerstag vor dem Jobcenter in Rottweil ab. Ein 58-jähriger Mann hat die 50-jährige Mitarbeitern des Jobcenters in ihrem Büro mit einem Messer attackiert. Nach der Tat lässt er sich widerstandslos festnehmen.

Die Polizei betont später angesichts zahlreicher Kommentare im Netz, dass es sich bei dem Täter um einen "Deutschen ohne Migrationshintergrund" handelt. Über sein Motiv ist noch nichts bekannt. Aber: Er sei als Kunde im Jobcenter bekannt gewesen, erklärt ein Polizeisprecher.

Der Mann habe das Jobcenter, das sich in einem mehrstöckigen Gebäude befindet, gegen 10.45 Uhr Uhr betreten und sei ins Büro der Mitarbeiterin im siebten Stock gegangen, wo er, wie die Polizei auf Nachfrage erklärt, einen Termin gehabt habe. Ob es vor dem Angriff noch zu einem Gespräch oder Unstimmigkeiten kam, darüber ist derzeit nichts bekannt. "Es gibt keine direkten Zeugen", erklärt der Sprecher des Polizeipräsidiums Konstanz. Klar ist: Der 58-Jährige sticht auf die Frau ein, verletzt sie schwer.

Gegen 11 Uhr geht bei der Polizei der Notruf ein. Im Zuge des sofort eingeleiteten Polizeieinsatzes wird der Täter, der aus dem Kreis Rottweil kommt, noch im Gebäude festgenommen. Auch die Tatwaffe wird sichergestellt. Das Stockwerk, in dem sich der Tatort befindet, wird teilweise evakuiert, das gesamte Gebäude für den Publikumsverkehr gesperrt. Während draußen zahlreiche Menschen darauf warten, vielleicht doch noch ihren Termin im Jobcenter – dies wird vom Landkreis und der Agentur für Arbeit Rottweil/Villingen-Schwenningen getragen – wahrnehmen zu können, werden Spuren am Tatort gesichert und weitere Mitarbeiter befragt.

Betreuer der Polizei und die Notfallseelsorge des DRK sind vor Ort. Vielen, die das Gebäude verlassen, steht die Bestürzung ins Gesicht geschrieben. Schon wieder eine Messerattacke. Schon wieder in einem öffentlichen Gebäude.

Im Kreis Rottweil gab es allein im vergangenen Jahr zwei ähnlich gelagerte Taten. Im März hatte ein 26-Jähriger den Kämmerer der Stadt Schramberg mit einem Messer niedergestochen. Das Opfer überlebte nur knapp. Erst vor wenigen Wochen fand der Prozess statt, in dem der Täter zu seinem Motiv sagte, er habe einen "Hass auf das Jobcenter" gehabt, sich unverstanden gefühlt. Die Wut entlud sich letztlich im Rathaus. Er wurde wegen seiner schweren Geisteskrankheit in eine Psychiatrische Klinik eingewiesen. Der Kämmerer arbeitete später weiter, sagt im Prozess, er sei "vorsichtiger geworden". Man wisse nie, wer da zur Tür hereinkommt.

In der Tat: Im Oktober rastet im Rottweiler Rathaus ein 18-Jähriger afrikanischer Herkunft aus, schnappt sich eine Schere und bedroht damit den Mitarbeiter der Ausländerbehörde. Er ist, wie sich später herausstellt, mit einer Entscheidung nicht einverstanden. Weitere Rathausmitarbeiter eilen zur Hilfe. Es gelingt ihnen, den 18-Jährigen zu beruhigen, bis die Polizei eintrifft und ihn abführt.

Frust, Hass, Wut, das Gefühl, ungerecht behandelt zu werden, nicht selten verbunden mit einem psychischen Ausnahmezustand: Immer häufiger entlädt sich dies in brutalen Attacken auf Mitarbeiter von Ämtern und Behörden, was die Frage nach der Sicherheit in öffentlichen Gebäuden aufwirft. Rathäuser, Landratsämter oder eben Jobcenter können zumeist ungehindert betreten werden. Im Jobcenter Bayreuth hat ein 38-Jähriger im vergangenen Jahr drei Mitarbeiter mit einem Messer attackiert und verletzt. Der Prozess wegen versuchten Mordes endet – wie im Schramberger Fall – mit einem Freispruch. Der Täter leidet an paranoider Schizophrenie und wird als nicht schuldfähig angesehen. Er wird dauerhaft in der Psychiatrie untergebracht.

Die lokalen Jobcenter im Gebiet eines Landkreises gewähren Leistungen zur Grundsicherung und unterstützen Bezieher von Arbeitslosengeld II bei der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit. Neben dem Arbeitslosengeld II können unter bestimmten Voraussetzungen Leistungen für sogenannte "Mehrbedarfe" gewährt werden. Arbeitslosengeld-II-Empfänger sollen bei der Eingliederung in den Arbeitsmarkt unterstützt werden. Auch kommunale Leistungen wie psychosoziale Beratung oder Schuldnerberatung werden abgedeckt.

In welcher Situation und in welchem Zustand sich der 58-jährige Täter befindet, als er am Donnerstag in Rottweil mit einem Messer bewaffnet das Jobcenter betritt, ist noch nicht bekannt. Die Staatsanwaltschaft Rottweil leitete gegen ihn ein Ermittlungsverfahren wegen eines versuchten Tötungsdeliktes ein. Sein Opfer schwebt nach bisherigen Erkenntnissen der Polizei nicht in Lebensgefahr.

Als nach der Tat mehrere Fahrzeuge der Polizei in der Rottweiler Innenstadt vor einem Haus vorfahren, liegt zunächst der Verdacht nahe, dass hier Ermittlungen im Fall der Messerattacke geführt werden. Ein Nachfrage ergibt jedoch, dass kein Zusammenhang besteht. Eine Person soll in eine psychiatrische Klinik eingewiesen werden – und wehrt sich dagegen.