Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer sprach beim politischen Montagsgebet auf der Liebfrauenhöhe über den Konflikt von Verantwortungs- und Gesinnungsethik. Foto: Lück

Tübinger OB bei politischem Abendgebet: "Gesinnungsethik ist nur etwas für Heilige."

Rottenburg-Ergenzingen - Wer wieder ein umstrittenes politisches Statement von Boris Palmer (Grüne) erwartet hat, wurde enttäuscht. Wer begreifen wollte, wie der bundesweit bekannte Klartext-OB von Tübingen tickt, der war begeistert.

Die Krypta der Liebfrauenhöhe am Montagabend. Voll bis fast auf den letzten Platz. Eigentlich sollte das politische Montagsgebet um 19 Uhr anfangen. Doch noch um 19.15 Uhr war von Palmer nichts zu sehen. Erst um 19.17 Uhr rollt er an – Trekking-Rad, gelbes Trikot mit Tübingen-Wappen, hellblauer Fahrradhelm und blaue Fahrradtasche mit Anzug.

Palmer: "Ich bin durchs schöne Rommelstal gefahren – da komme ich sonst nicht lang. Leider hat dann mein Oberschenkel doch ein bisschen gezwickt!"

Sieben Minuten später sitzt Palmer zwischen Beatrix und Jürgen Oberle von der Initiative Montagsgebete und singt das erste Lied.

Sebastian Lazar, Mitarbeiter des FDP-Landtagsabgeordneten Timm Kern und auch in der Initiative, lobt erst einmal den grünen Gast: "Allein sein Name lässt den Pulsschlag höher schlagen. In einem Interview hat Palmer gesagt, er wolle von Tübingen aus die Welt retten. In seinen ersten zehn Jahren haben sich die Gewerbesteuereinnahmen verdoppelt, die CO2-Emissionen aber um 25 Prozent verringert."

Palmer stellt sich dann mit dem Mikrofon vor den Altar. Sein erster Satz: "Vor einer Woche war ich zuletzt in einer Kirche. Als Aufsichtsratsvorsitzender unserer Stadtwerke, es war die Beerdigung eines Azubis – gerade fertig. Sein erster Einsatz war an einer Freileitung – er starb. Gerade 23 Jahre alt. Damit haben wir das erste Dilemma. Das des Glaubens. Wenn wir uns Gott allmächtig vorstellen, ist es unvorstellbar, dass er so etwas zulässt. Das ist nicht der Gott, den wir uns vorstellen. Und wenn er allmächtig ist, hat er auch das Böse in sich? Oder geschaffen?"

Dasselbe Dilemma empfindet er in der Flüchtlingsfrage. Palmer: "Das Herz sagt, wir müssen allen Menschen auf dem Planeten helfen. Wir können nicht die Tür zuschlagen und sie zurückweisen. Allerdings weiß ich, dass es so viele Flüchtlinge gibt, dass wir die Aufnahme aller in unserer Gesellschaft nicht stemmen können."

Ein Dilemma, welches er als Politiker nicht auflösen kann. Palmer: "Ich habe die Wahrheit formuliert. Der Schwabe sagt: Wie Du es machst, ist es nichts. Das habe ich getan, Parteifreunde verschreckt. Dass einige sogar fragen, ob man den Palmer einladen kann. Wie kann man dieses Dilemma auflösen?"

Palmer hat sich dabei für die Verantwortungsethik entschieden. Der grüne OB: "Gesinnungsethik, so schreibt Max Weber, ist nur etwas für Heilige. Verantwortungsethik heißt als Politiker, die Folgen und Konsequenzen seines Handelns für die Gesellschaft zu bedenken. Dabei machst du dir immer die Hände dreckig. Politiker laden deshalb Schuld auf sich. Ich habe deshalb immer argumentiert, dass man immer nur so vielen Menschen helfen kann, wie es möglich ist."

Konflikt zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik kennt jeder

Der Konflikt zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik – den kennt jeder persönlich, meint Palmer: "Da fahre ich heute mit dem Rad her aus ökologischen Gründen, und morgen nehme ich vielleicht das Auto, weil es so bequem ist und schneller geht. Das schwankt. Man muss diese Unterschiedlichkeit der Menschen akzeptieren." Klare Worte. Ehrliches Bekenntnis zur eigenen Verantwortung. Das politische Montagsgebet von Palmer. Ein Politiker, der es sich nicht einfach macht.

Dann predigt Brigitte Oberle: "In bayerischen Amtsstuben wird jetzt das Kreuz als kulturelles Symbol aufgehängt. Gott, lass unseren Glauben nicht zu Folklore werden."

Die Wild Voices singen Halleluja und Sanctus. Palmer ist sichtlich beeindruckt: "Schön, so einen reinen Männerchor zu hören."

Dann gibt es den Segen von Priester Lothar Penners von der Liebfrauenhöhe. Er sagt: "Wir Christen sollten uns zwischen der Gesinnungsethik und Verantwortungsethik abmühen. Wir nehmen die Fragen, die Boris Palmer hier aufgeworfen hat, auf. Wir sind dankbar, dass in unserer Nachbarstadt Tübingen ein OB ist, der an solchen Fragen nicht vorbeiregiert." Penners warnt davor, sich durch die Dilemmata und die unauflösbare Spannung lähmen zu lassen.

Penners: "Sie darf einen nicht daran hindern, seinen Weg weiter zu gehen und jeden Tag neu zu kämpfen. Und nicht zu vergessen, dass man auf den Dialog mit anderen angewiesen ist."

Dann ist das politische Abendgebet zu Ende. Einige Besucher in der rappelvollen Kirche haben Palmers Buch "Wir können nicht allen helfen" mitgebracht. Zum Signieren.