Mountainbike: Der Brasilianer ist mit 29 durchgestartet

Als Brasilianer Fuß zu fassen im Mountainbike-Weltcup, ist nicht einfach. Von dieser Erfahrung – und von seiner Vorfreude auf die WM in Albstadt – berichtet Henrique Avancini im Gespräch mit unserer Zeitung.

Henrique, Sie sind 2018 im Alter von 29 Jahren in der Weltspitze aufgetaucht. Was ist der Grund, dass die Ergebniskurve so steil nach oben zeigte?
Alle wundern sich, wie ich mich so stark entwickeln konnte. Ich habe eigentlich nicht viel verändert, aber meine Einstellung, wie ich mit verschiedenen Situationen umgehe. Wenn ich meine physischen Tests von 2013 oder Ende 2012 vergleiche, habe ich mich nicht sehr verbessert.

Was macht dann die Steigerung aus?
Mein erster größerer Sieg war der in Münsingen 2013. Es war zum ersten Mal, dass ich mich in Europa gezeigt habe. Es war zum ersten Mal, dass ich die Verfassung hatte, ein Rennen gegen große Namen zu gewinnen.  Aber von da an habe ich noch fünf Jahre gebraucht, um auf einem Weltcup-Podium zu stehen.

Eben. Und warum?
In Münsingen waren damals auch fünf Fahrer aus der Top-Ten der Weltrangliste, aber wenn du in kleineren Rennen auf starke Fahrer triffst, musst du dir nicht so viele Gedanken machen. Wenn du wie ich  alleine im Weltcup ankommst, beginnst du, viel mehr nachzudenken. Da sind sie alle, die großen Namen, die Trucks. Das sind so viele Informationen für dein Gehirn, auch wenn du das gar nicht realisierst.

Sie meinen, es raubt mentale Energie?
Körperlich eine gute Form zu haben, ist eines. Im Rennen eine gute Form abzuliefern, was anderes. Dafür musst du mental wirklich gut aufgestellt sein. Ich komme aus einem anderen Land, einer anderen Kultur.

Warum spielt die Kultur eine Rolle?
Wir Brasilianer sehen uns selbst anders. Traditionell reden wir vor allem über unseren Mangel an guten Bedingungen. Das hat mich immer geärgert. Wenn ein brasilianischer Athlet nach Europa kommt, wenn er die Trainings-Zentren sieht, wenn er die Strukturen erkennt, wird sich der Brasilianer sofort weiter unten einordnen. Eine der ersten Erkenntnisse für mich war, dass ich die Bedingungen nicht habe, aber dass ich sie mir schaffen kann.

Wann haben Sie das verstanden? Als Sie zum ersten Mal in einem europäischen Team fuhren?
Ja, da habe ich das gespürt. Als ich jung war, dachte ich, dass ich nur nach Europa kommen müsste, und dann wäre alles ganz einfach. Aber als ich dort war, erkannte ich, dass ich noch viel zu lernen habe. Am Ende hat mir Andrea Marconi (Team-Manager) gesagt: Vielleicht hast nicht das, was man braucht, um ein Top-Fahrer zu werden.
 

Was war Ihre Reaktion darauf?
Ich habe begonnen, sehr stark an meinen Fähigkeiten zu arbeiten, härter zu trainieren. Ich sagte mir: »Okay, vergiss das Talent, ich habe es nicht. Ich werde mir aber die Zeit nehmen, um die Fähigkeit aufzubauen, mehr als alle anderen Fahrer zu trainieren. So dass ich an der Startlinie sagen kann: Niemand hat mehr trainiert als ich, niemand hat diesen Aufwand betrieben.« Wenn ich den gleichen Speed habe, dann kann ich sie schlagen, weil mein Weg dahin viel härter war.

Sie meinen, das schafft ein anderes Bewusstsein, eine andere Leidensfähigkeit?
Ich war von Haus aus nie gut in irgendwas, aber heute bin ich Zweiter in der Weltrangliste, Dritter im Weltcup.  Ich habe nur an diesen einzelnen Teilen gearbeitet, mich besser zu erholen, technisch besser zu werden, eine ausgeglichene Person zu werden und so weiter. Und auf einmal war ich da. Das Leben folgt dem einfach (lacht).

Vermutlich bestehen die Schwierigkeiten in Brasilien nicht nur auf kultureller Ebene, sondern auch in ganz praktischen Hindernissen.
Ja, genau. Die meisten Europäer fahren meistens vielleicht 500 Kilometer zu einem Rennen. Als ich jung war, musste ich persönliche Dinge verkaufen, um ein Flugticket zu erwerben. Ich kam mit einem Jetlag an, musste einen Platz zum Schlafen finden, jemanden suchen, der mir im Rennen Flaschen reicht. Diese Sachen waren alle viel schwieriger für mich. Nur um an der Startlinie zu sein.

Und wie war es mit dem Material?
Ich hatte nie Unterstützung, eine Saison habe ich mit zwei Sätzen Reifen bestritten. Ich erinnere mich an meine erste WM 2006 (als Junior in Neuseeland). Als das französische Team weg war, bin ich an deren Abfalleimer gegangen und habe die Ketten mitgenommen, die sie weggeworfen haben. Die ganz nächste Saison bin ich mit diesen Ketten gefahren.
Hat der Weltmeister-Titel im Marathon 2018 für Sie etwas verändert?
Damit hast du ein Symbol, du bist zu einer Referenz geworden, vielleicht zu einem Role-Model. Es ist ziemlich symbolisch und geht tief. Dadurch habe ich realisiert, was ich erreichen kann und natürlich sind die Leute mehr interessiert. Es gab den Leuten in meiner Heimat Stolz und Selbstvertrauen. Persönlich hat mir der Titel einige Türen geöffnet.

2020 ist das olympische Jahr. Was sind Ihre Ziele?
Mein erstes großes Ziel ist das Cape Epic. Ich träume davon, das zu gewinnen. Dieses Jahr mehr als jemals zuvor, weil es das letzte Mal gemeinsam mit Mani (Manuel Fumic beendet am Ende der Saison seine Karriere) sein wird.

Manuel Fumic nimmt eine besondere Stellung ein in Ihrer Karriere.
Ja, Manuel ist sehr wichtig für mich. Er ist eine einzigartige Person. Es ist wirklich schwer, jemanden zu finden, der so positiv ist. Wenn ich ihn um mich habe, sind die Vibes immer besser. Ich denke, er ist auch allgemein ein toller Typ unseren Sport. Ich sehe ihn wie einen großen Bruder. Er bringt mich zum Lachen, wenn ich traurig bin, er korrigiert mich, wenn ich was falsch mache, er gibt mir Rat, wenn mir eine Herausforderung bevorsteht.

Was haben Sie sich für die Weltmeisterschaft vorgenommen?
Ich habe bei einer Cross-Country-WM noch keine Medaille gewonnen. 2017 und 2018 war ich als Vierter knapp dran. Dieses Jahr ist mein Ziel zu gewinnen.

Nino Schurter und Mathieu van der Poel sind die beherrschenden Figuren. Glauben Sie, die beiden schlagen zu können?
Das sind große Talente, keine Frage. Nino ist der beste Mountainbiker aller Zeiten und immer noch der Fahrer, den man schlagen muss. Über Mathieu spricht man als den besten Radfahrer in dieser Zeit. Ich weiß, sie sind schwer zu schlagen, aber da ist ein Freak, der das immer noch glaubt (lacht).

Auf was freuen Sie sich denn bei der WM in Albstadt am meisten?
Ich freue mich wirklich auf die gewaltige Zuschauer-Menge. Ich wünsche mir, es wird die größte Zuschauer-Menge in der Geschichte von Albstadt. Und dann hoffe ich, dass ich was wirklich Großes draus machen kann.

 Die Fragen stellte Erhard Goller.