Kremlchef Vladimir Putin: Hat er den Kontakt zur Realität verloren? Foto: //Mikhail Klimentyev/Kremlin Pool

Mehr Schein als Sein: Warum Russland in der Ukraine vor dem Scheitern steht. Und: Verfügt Vladimir Putin noch über alle relevanten Informationen?

Der Sieg ist eine ausgemachte Sache. Als die russische Armee vor knapp einem Jahr die Ukraine überfällt, liegen bei vielen Offizieren die Paradeuniformen im Marschgepäck. Kiew soll nach der Eroberung eine glanzvolle Demonstration russischer Militärmacht erleben. Doch es kommt anders.

Der Enthauptungsschlag gegen die Führung in Kiew scheitert. Die Kremltruppen ziehen sich aus der Region zurück. Eine Kette schwerer Niederlagen folgt. Ukrainische Spezialkommandos versenken das Flaggschiff der Schwarzmeerflotte und zerstören Teile der Krim-Brücke. Im Sommer fliehen russische Einheiten panisch aus Charkiw. Im Herbst ziehen die Besatzer aus dem annektierten Cherson ab. Russische Siege? Fehlanzeige. Die Paradeuniformen bleiben im Gepäck.

Warum das so ist, zeigt die Geschichte einer anderen Uniform. Der Fallschirmjäger Pawel Filatjew kämpft im Februar 2022 für die russischen Invasionstruppen im Süden. Mitten im Winter trägt er eine leichte Herbstuniform, die er sich selbst hat kaufen müssen. Denn über eine Kampfmontur in passender Größe verfügt sein Regiment nicht. Als Filatjew beim Vormarsch seinen Helm verliert, gibt es keinen Ersatz. Im Lazarett lässt der Soldat später seinem Frust freien Lauf: „In unserer Armee herrschen Korruption und Chaos. Sie ist technisch so heruntergekommen wie moralisch.“

„Zynische Verharmlosung“

Filatjew stellt einen Bericht über seine Erlebnisse ins Internet, bevor er ins Ausland flieht. Die Aufzeichnungen sind eine einzige Anklage. Gegen Präsident Wladimir Putin, die Armeeführung und die Staatsmedien, die „ungerührt Bullshit verbreiten“.

Alles beginnt mit dem Wort „Spezialoperation“, das Filatjew als zynische Verharmlosung entlarvt. „Hast du je das Geräusch eines heranfliegenden Geschosses gehört? Die Luft zittert und pfeift, deine Eingeweide drehen sich um, der Atem setzt aus. Und dann hörst du die Explosion und kapierst, dass dies heute dein Glückstag ist. Natürlich nur, wenn die Druckwelle dir nichts abgerissen hat.“ Spezialoperation? „Es ist Krieg.“ Und genau darauf sei die Armee nicht vorbereitet gewesen. Doch nicht nur die. Für Filatjew ist die Truppe so etwas wie das Spiegelbild einer kaputten, von Korruption durchseuchten Gesellschaft: „Alles ist mehr Schein als Sein.“

Es ist das alte Prinzip der Potemkinschen Dörfer, das zwar auf einer Legende beruht. Demnach ließ der Fürst Grigori Potemkin ganze Dorfattrappen errichten, um die Zarin zu beeindrucken. In Wirklichkeit erzählte der Fürst wohl nur falsche Geschichten über echte Dörfer. Das Prinzip „Schein sticht Sein“ ist im zaristischen Russland dennoch so verbreitet wie später in der Sowjetunion. Vor allem unter Generalsekretär Leonid Breschnew stehen all die Rekordernten nur noch auf dem Papier.

Täuschen als zweite Natur

Und Putin? Ausgerechnet die Breschnew-Jahre sind seine prägende Jugendzeit. Als KGB-Offizier wird ihm das Täuschen zur zweiten Natur. Das zeigt ein Rückblick auf Putins zwei Jahrzehnte an der Macht. Schon in seiner umjubelten Rede im Bundestag 2001 nutzt er zielsicher all die Worte, von denen er weiß, dass sein deutsches Publikum ihn dafür lieben wird. Er spricht vom europäischen Haus, von Humanismus und dem Geist der Freiheit, von Kant und Goethe. Und er versichert: „Das Hauptziel unserer Innenpolitik ist die Gewährleistung der demokratischen Rechte und der Freiheit.“ Niemand könne Russland „je wieder in die Vergangenheit zurückführen“. Der Applaus ist frenetisch.

In der russischen Wirklichkeit tut Putin das Gegenteil dessen, was er im Bundestag versprochen hat. Er unterwirft die Justiz, die Medien und die Wirtschaft seiner Kontrolle. Er baut bürgerliche Rechte ab, streicht Freiheiten zusammen und schafft eine Fassadendemokratie mit manipulierten Wahlen und machtlosen Scheinparlamenten. Erster Höhepunkt der Show ist 2008 die Rochade im Präsidentenamt mit Dmitri Medwedew. Putin zieht als Premier weiter die Fäden, während die Marionette Medwedew auf der Weltbühne den liberalen Westler gibt. 2011 gestehen beide die Inszenierung ein. Es sei eine „tief durchdachte Lösung“ gewesen.

Putin, ein genialer Anführer?

Der Erfolg scheint Putin lange recht zu geben. Zum Meisterwerk der Täuschung wird 2014 die Eroberung der Krim. In den Wirren der Kiewer Maidanrevolution schickt der Kreml Soldaten ohne Hoheitsabzeichen auf die ukrainische Halbinsel, die dort einen prorussischen Putsch absichern. Es folgen ein Scheinreferendum und die Annexion. Anfangs streitet Putin den Militäreinsatz rundweg ab, lässt sich später aber für den Trick feiern. Ähnlich läuft es im Donbass. Spätestens zu dieser Zeit wird klar, dass Putin – anders, als er es 2001 im Bundestag versprochen hat – Russland sehr wohl in eine imperiale Vergangenheit zurückführen will.

Mit der Krim-Annexion erreicht Putin den Zenit seines Ruhms. Die Menschen in Russland feiern ihren Präsidenten als genialen Anführer. Doch der Triumph macht ihn blind für Probleme. Putin begreift nicht, dass man auf Dauer keinen noch so schönen Schein als Sein ausgeben kann. Die Rückschläge häufen sich. Beispiel Corona-Pandemie: Moskauer Mikrobiologen entwickeln schnell einen vielversprechenden Impfstoff. Doch statt die entscheidenden klinischen Studien abzuwarten, lassen die Behörden das Vakzin schon im August 2020 zu. Der Impfstoff bekommt den Namen Sputnik V, zur Erinnerung an den ersten Satellitenstart 1957 (Sputnik 1).

Das V steht für Victory (Sieg). Russische Kommentatoren jubeln: „Wir sind immer die Ersten: im All, im Sport und in der Wissenschaft.“ Doch um des kurzen Triumphs willen verspielt der Kreml einen echten Erfolg. Nicht nur Fachleute im Westen sprechen von „Experimenten“ mit Menschen. Auch die eigene Bevölkerung traut Sputnik V nicht, die Impfquote bleibt niedrig. Folge: Die Übersterblichkeit erreicht in Russland während der Pandemie den zweithöchsten Wert weltweit.

Russland stagniert ökonomisch

Auch ökonomisch stagniert Putins Potemkinsches Imperium. Die Einnahmen aus dem Gas- und Ölexport überdecken den Mangel an Innovationskraft. Zugleich grassiert die Korruption. Im Index von Transparency International liegt Russland auf Rang 136 unter 180 Staaten. Und diese Probleme lassen sich nicht wegretuschieren. Die Menschen spüren es direkt, wenn Handwerker oder Ärztinnen die Hand aufhalten. Um abzulenken, schafft Putin ein System, in dem er als „guter Zar“ auftritt, der leider zu oft von Versagern umgeben ist. TV-Formate wie Putins Bürgertalk „Direkter Draht“ vermitteln den Eindruck, dass der Kremlchef sofort handelt, sobald er von Missständen erfährt.

Das System entwickelt allerdings eine paradoxe Eigendynamik. Immer öfter halten Berater tatsächlich wichtige Informationen zurück, um nicht den Zorn des Herrschers auf sich zu ziehen. Die Folge: Putin lebt zunehmend in einer Scheinwelt. Er ist nicht mehr selbst der geniale Täuscher, sondern der Getäuschte. Die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel soll schon 2014 daran gezweifelt haben, ob Putin noch „Kontakt zur Realität hat“. Das war nach der Krim-Eroberung.

Acht Jahre später, noch vor dem russischen Überfall auf die Ukraine, fehlten Putin ganz offensichtlich entscheidende Informationen zu den Erfolgsaussichten der eigenen Truppen.