Ein ukrainischer Soldat sitzt auf einem russischen Panzerfahrzeug mit dem Kriegszeichen Z. Foto: dpa/Kostiantyn Liberov

Es tut sich was an den Kriegsschauplätzen des Landes. Das ukrainische Militär erobert immer mehr Gebiete zurück. Dort finden die Einsatzkräfte auch Hinweise auf mutmaßliche Kriegsverbrechen der russischen Besatzer.

Ist der Wendepunkt im Ukraine-Krieg zum Greifen nah? Die US-amerikanische Regierung sieht angesichts der militärischen Erfolge der ukrainischen Truppen eine neue Dynamik im Krieg mit Russland. „Ich denke, was Sie sehen, ist sicherlich eine Verschiebung, ein Momentum der ukrainischen Streitkräfte, insbesondere im Norden“, sagte der Kommunikationsdirektor des Nationalen Sicherheitsrates, John Kirby, am Dienstag in Washington. Er wolle es aber dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj überlassen, zu entscheiden, ob tatsächlich ein Wendepunkt erreicht sei.

US-Präsident Joe Biden entgegnete am Dienstagabend (Ortszeit) auf die Frage von Reportern, ob ein Wendepunkt in dem Krieg erreicht sei, dies sei schwer zu sagen. Zwar hätten die Ukrainer bedeutende Fortschritte gemacht, betonte Biden nach Angaben mitreisender Journalisten bei einem Besuch in Wilmington im Bundesstaat Delaware. Es werde aber ein langer Weg sein.

Kirby sagte mit Blick auf die jüngste Entwicklung: „Ich möchte nicht für das ausländische Militär sprechen, aber ich meine, im Norden haben wir gesehen, wie die Russen ihre Verteidigungspositionen evakuiert und sich zurückgezogen haben.“ Die russischen Truppen hätten ihre Kampfpositionen verlassen und ihre Vorräte zurückgelassen. „Sie nennen es eine Neupositionierung, aber es ist sicher, dass sie sich angesichts der ukrainischen Streitkräfte, die eindeutig in der Offensive sind, zurückgezogen haben.“ Kirby betonte gleichzeitig, dass Russland weiterhin große militärische Fähigkeiten habe.

Ukraine untersucht mutmaßliche Kriegsverbrechen

Indes versucht die Ukraine, das Leben in den zurückeroberten Gebieten im Osten so schnell wie möglich wieder zu normalisieren. „Es ist sehr wichtig, dass mit unseren Truppen, mit unserer Flagge auch das normale Leben in die nicht mehr besetzten Gebiete zurückkehrt“, sagte Präsident Wolodymyr Selenskyj am Dienstagabend. Doch zugleich scheint sich die Erfahrung nach dem Abzug russischer Truppen aus der Umgebung von Kiew im Frühjahr zu wiederholen: Aus den befreiten Gebieten melden ukrainische Behörden Hinweise auf mutmaßliche Kriegsverbrechen der Besatzer. Im Gebiet Charkiw gebe es bereits 40 Verdachtsfälle, sagte Vize-Innenminister Jewhenij Jenin.

Hinweise auf Foltergefängnis in Balaklija

Aus Balaklija kam die Nachricht, dass russische Kräfte im örtlichen Polizeirevier ein Foltergefängnis unterhalten haben sollen. Im Keller seien während der mehrere Monate dauernden Besatzung durchgehend um die 40 Menschen eingesperrt gewesen, berichtete der ranghohe ukrainische Polizist Serhij Bolwinow nach einem Ortstermin.

„Die Besatzer nahmen diejenigen mit, die beim Militär dienten oder dort Verwandte hatten, und suchten auch nach denen, die der Armee halfen“, schrieb der Leiter der Ermittlungsabteilung bei der Polizei Charkiw auf Facebook. Laut Zeugenaussagen seien Gefangene mit Stromschlägen gefoltert worden. Reporter der BBC und anderer ausländischer Medien bestätigten die Angaben. Sie berichteten auch von Leichen, die in Balaklija gefunden worden seien. Auch aus anderen Orten der Region gab es unverifizierte Berichte über Leichenfunde.

Nach dem Abzug russischer Truppen aus Butscha und anderen Vororten von Kiew Ende März waren dort Hunderte tote Zivilisten entdeckt worden. Moskau stritt trotz erdrückender Beweise ab, dass die Tötungen auf das Konto russischer Soldaten gingen, und sprach von einer ukrainischen Inszenierung. Die Ukraine sammelt mit internationaler Hilfe Beweise für mutmaßliche Kriegsverbrechen der russischen Armee.

Vize-Innenminister Jenin sprach von bislang 40 Verdachtsfällen in der Region Charkiw. „Die Besatzer waren lange Zeit in diesem Gebiet und haben natürlich alles gemacht, um die Spuren ihrer Verbrechen zu verdecken“, sagte er nach Ministeriumsangaben. Es müsse alles getan werden, um Beweise zu sichern.

Russland macht angeblich Gesprächsangebot

Die Lage an der Front sei gespannt, aber unter Kontrolle, sagte der ukrainische Oberbefehlshaber Walerij Saluschnyj. Er telefonierte nach eigenen Angaben mit Nato-Oberbefehlshaber Christopher Cavoli und US-Generalstabschef Mark Milley. Dabei dankte Saluschnyj für die militärische Unterstützung der USA.

Angesichts des ukrainischen Vormarsches hätten russische Vertreter dieser Tage sondiert, ob Verhandlungen möglich seien, sagte die ukrainische Vize-Regierungschefin Olha Stefanischyna dem Sender France24. Die Ukraine wolle aber erst verhandeln, wenn sie ihre militärischen Ziele erreicht habe. Eine Bestätigung aus Moskau für das angebliche Gesprächsangebot gab es nicht.

Kein Einlenken Putins im Gespräch mit Scholz

Kanzler Scholz sprach etwa 90 Minuten lang mit Kremlchef Putin und warnte vor weiteren Versuchen, Gebiete der Ukraine abzutrennen. „Der Bundeskanzler betonte, dass etwaige weitere russische Annexionsschritte nicht unbeantwortet blieben und keinesfalls anerkannt würden“, sagte Regierungssprecher Steffen Hebestreit.

Die Mitteilung des Kremls zu dem Telefonat ließ auf keinerlei Einlenken Putins schließen. Der Präsident habe den Kanzler auf die „himmelschreienden Verstöße“ der Ukrainer gegen das humanitäre Völkerrecht aufmerksam gemacht, hieß es. Die ukrainische Armee beschieße Städte im Donbass und töte dort Zivilisten.

Im Streit über Gaslieferungen betonte Putin demnach, dass Russland ein zuverlässiger Lieferant sei. Westliche Sanktionen verhinderten aber eine ordnungsgemäße Wartung der Ostsee-Pipeline Nord Stream 1. Nicht nur die Bundesregierung hält diese Begründung für den Lieferstopp für vorgeschoben.