270 Forensiker suchen nach Spuren an Beweismitteln
Nicht aber die Kleidung der jungen Frau, denn die ist inzwischen beim Landeskriminalamt in Bad Cannstatt. Im zweiten Obergeschoss des grauen 70er-Jahre Baus ist das Kriminaltechnische Institut untergebracht, kurz KTI. 270 Forensiker suchen hier jeden Tag nach Spuren an Beweismitteln aus allen möglichen Kriminalfällen im ganzen Land: Techniker, Diplomingenieure, Geo-Informatiker, Physiker, spezialisierte Polizeibeamte.
Hier, in den weiß gestrichenen Räumen hinter den Glastüren, passiert das, was Kriminaltechniker molekulargenetische Untersuchung nennen: die DNA-Analyse. „Vorsicht, Biogefährdung“ steht auf einem Schild an der Tür, dahinter zieht eine Assistentin mit Haarnetz und Mundschutz ein schwarzes Kleidungsstück aus einer braunen Papiertüte. „Auf diesem Tisch landen die Beweismittel aus Sexualdelikten“, sagt Gerhard Bäßler und tippt mit dem Finger gegen die Glastüre. Hier landet irgendwann auch die Kleidung von Amina Bauer, die Strumpfhose, die sie am Tag des Überfalls getragen hatte, der Rock. Asservate nennt Bäßler, was in diesen Räumen unter die Lupe genommen wird, oder genauer: unter das Stereomikroskop.
Der hochgewachsene Mann, grauer Anzug, grauer Bart, Doktortitel, leitet im KTI den Fachbereich Molekulargenetik mit rund 50 Mitarbeitern. Routinemäßig werden hier pro Woche sechs DNA-Analysen mit jeweils 84 Spuren aus verschiedenen Fällen untersucht, also rund 500 Spuren. Dazu kommen jene aus besonders wichtigen Straftaten, also „vordringlich zu untersuchende Spuren“, die parallel bearbeitet werden. Auf das Jahr gesehen summiert sich das auf rund 25 000.
Beim Kriminaltechnischen Institut hinkt man den Fällen oft hinterher
Nur sechs Analysen pro Woche, das klingt wenig, zumal Fernsehkrimis Ergebnisse in stundenschnelle suggerieren. Aber solche Analysen seien Kleinstarbeit, sagt Bäßler, und Sorgfalt gehe eben vor Schnelligkeit. Millimeterweise werden die Stellen der Kleidungsstücke untersucht, die ein Täter beispielsweise bei einem Sexualdelikt berührt haben könnte. „Da geht es um kleinste Hautschuppen“, sagt Bäßler, denn schon die können Rückschlüsse auf den genetischen Code eines Menschen geben. Finden sich unter dem Mikroskop solche Schüppchen, werden sie mit der Nadel in ein Plastikgefäß gesetzt, gereinigt und maschinell vermehrt. Das kann ein paar Tage dauern, je nachdem, wie klein oder groß die Spur ist, doch am Ende der Analyse steht ein Strichmuster, das einem Menschen zugeordnet werden kann.
Nun landen hier, im Fachbereich 230, beinahe täglich braune Papiertüten mit Beweismitteln von Sexualdelikten aus dem Land, mehr oder minder schwer. Doch alle auf einmal sind kaum zu bewältigen, zumal dann nicht, wenn ein Fall wie aus Freiburg dazwischenkommt. Dann, das sagt Bäßler offen, stünden andere Delikte erst einmal zurück – das sei eben eine Frage der Priorisierung. „Unsere Kapazitäten sind begrenzt, und wir müssen deshalb besonders schwerwiegende Fälle vorziehen.“ Dass sich die Aufklärung eines anderen Falles dadurch oft über Monate zieht, weiß er, und auch, dass dann irgendein Täter weiter frei umherläuft. Da sei man auf die Hinweise der Polizei angewiesen: „Wenn wir ein Signal bekommen, dass eine Analyse eilt, versuchen wir sie vorzuziehen.“
Ist das Kriminaltechnische Institut also überlastet, zu langsam, weil Personal fehlt? Beim Innenministerium verspricht man zumindest etwas Abhilfe. „Uns ist bewusst, dass es in der Kriminaltechnik zu längeren Wartezeiten kommen kann“, sagt Sprecher Carsten Dehner. Man müsse Prioritäten setzen, je nachdem, wie dringlich ein Fall sei oder wie vergänglich eine Spur. Immerhin, um die Lage zu verbessern sind im Haushalt für das kommende Jahr Mittel für 19 zusätzliche Stellen in der Kriminaltechnik vorgesehen. Zwölf davon sollen bei den Polizeipräsidien im Land angesiedelt werden, sieben beim LKA. „Das ist schon mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein“, sagt Dehner. „Wir haben die Notwendigkeit erkannt und entsprechend gehandelt.“
Bis ein Beweis vorliegt, gilt die Unschuldsvermutung
Ob dieser Schritt ausreicht, muss sich zeigen, denn die Zahl der Sexualstraftaten ist in den vergangenen zehn Jahren stadt- und landesweit angestiegen, und somit auch die Arbeit beim KTI. „Der Trend zeigt auch in diesem Jahr nach oben“, sagt der Stuttgarter Polizeisprecher Jens Lauer. Woran das liege, lasse sich nur schwer sagen. Vielleicht daran, dass nicht nur die Zahl der Taten zunehme, sondern sich auch das Anzeigeverhalten verändere. „Nach den Vorfällen in der Silvesternacht in Stuttgart, Köln und anderswo spüren wir das“, sagt Lauer. Zum Beispiel beim Cannstatter Volksfest: 2015 habe es dort nur zwei Anzeigen von Sexualdelikten gegeben, in diesem Herbst seien es fast 30 gewesen.
Für Amina Bauer jedenfalls heißt es weiter warten, hoffen, dass die Angst seltener kommt, nicht schon hinter der Haustür lauert, und darauf, dass sie nicht mehr unbewusst überall nach dem Mann von dem Polizeifoto Ausschau hält. „Vielleicht“, sagt sie, „war es ja tatsächlich jemand anderes, vielleicht wollte ich einfach gerne jemanden erkennen auf den Bildern.“ Dass nicht einfach irgendein Unschuldiger festgenommen werden darf, ist für sie klar, zumindest wenn sie rational über die Sache nachdenkt, auch wenn das heißt, dass es dauert.
Unschuldsvermutung heißt der dahinter stehende strafrechtliche Grundsatz. Und der erlaubt die Festnahme einer Person nur dann, wenn auch ein dringender Tatverdacht besteht, betont die Stuttgarter Staatsanwaltschaft. Wenn also das Opfer jemanden zweifelsfrei identifizieren könne – und das gelinge in einer Gegenüberstellung oft nur schwer. Oder wenn ein DNA-Abgleich vorliege. Dann erst könne man einen konkret Beschuldigten festsetzen und beispielsweise die Daten seines Mobiltelefons überprüfen. In einem Fall wie dem von Amina Bauer werden bis dahin wohl noch Wochen oder Monate vergehen.
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