Barbierin, Kassierer, Tierpflegerin: Sie alle profitieren vom neuen Mindestlohn. Foto:  

Das Bundeskabinett bringt den gesetzlichen Mindestlohn von zwölf Euro auf den Weg. Dies dürfte noch ein Nachspiel haben – denn die Arbeitgeberverbände wollen sich damit nicht abfinden.

Stuttgart - Gegen den erbitterten Widerstand der Arbeitgeberverbände hat das Bundeskabinett am Mittwoch beschlossen, den gesetzlichen Mindestlohn zum 1. Oktober auf zwölf Euro brutto pro Stunde zu erhöhen. Damit ist der Streit nicht ausgestanden: Die Kritiker wollen das Gesetz entweder im Beratungsverfahren abschwächen oder auf dem Umweg über das Bundesverfassungsgericht zu Fall zu bringen. Dazu ein Überblick.

 

Wie beeinflusst der Sprung beim Mindestlohn die Tariflandschaft? Vordergründig reiben sich die Arbeitgeber daran, dass durch den Eingriff des Gesetzgebers weit mehr als 100 bestehende Tarifverträge ausgehebelt werden. Über die Niedriglohnbereiche hinaus würden sich die zwölf Euro auf viele weitere Tarife selbst in der Industrie und auf Branchenmindestlöhne auswirken, die schon über den zwölf Euro liegen. Denn die Tarifgitter würden „gestaucht“, weil die Lohnstufen von den Tarifparteien neu geordnet werden müssen. „Je nachdem, wie die sekundären Wirkungen auf Tarifverhandlungen aussehen, glauben wir an eine länger anhaltende Lohn-Preis-Spirale“, heißt es bei der Arbeitgebervereinigung BDA.

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Wie begründet Minister Heil seinen Plan? Ein alleinstehender Arbeitnehmer müsse bei Ausübung einer Vollzeitbeschäftigung seinen Lebensunterhalt bestreiten können, ohne auf ergänzende Sozialleistungen angewiesen zu sein, heißt es in der Begründung des Gesetzentwurfs von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD). „Überdies muss auch im Niedriglohnbereich eine Vollzeitbeschäftigung zur angemessenen Teilhabe am gesellschaftlichen Leben befähigen.“

Was vor allem kritisieren die Arbeitgeber? „Der Systemwechsel von einer tarifpolitisch geprägten Mindestlohnentwicklung hin zu einer Staatslohnentwicklung ist folgenschwer“, kritisiert Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger. Heil wolle die Grenze zwischen Lohnpolitik und staatlicher Alimentierung aufheben. BDA-Hauptgeschäftsführer Steffen Kampeter sieht in der Begründung Heils „ein grundsätzlich anderes Verständnis von Lohn- und Tarifpolitik“. Diese werde etwa zur Sicherung des Existenzminimums eingesetzt – Tarifpolitik sei aber an der jeweiligen wirtschaftlichen Lage orientiert. Damit nehme die Regierung eine „wesentliche Koordinatenverschiebung innerhalb der sozialen Marktwirtschaft“ vor. Sie privatisiere Sozialpolitik, indem sie diese zum integralen Bestandteil von Tarifpolitik erklärt – und sie diskreditiere eigene sozialpolitische Grundsätze wie die Grundsicherung“. Die „Living-wages“-Konzepte kämen jedoch „aus einem angelsächsischen Umfeld, das weder freie wirkmächtige Gewerkschaften noch leistungsfähige Arbeitgeberverbände kennt“.

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Wie geht es weiter? Die BDA hofft, dass der Gesetzentwurf noch angepasst wird – etwa durch ein späteres Inkrafttreten im nächsten Jahr oder Übergangsfristen für bestehende Tarifverträge. Auch steht noch immer eine Klage im Raum, wobei die BDA selbst nicht klagen kann. Dies müssten direkt Betroffene – eine Firma oder ein Tarifverband – übernehmen. Dazu hat die BDA ein Rechtsgutachten vom Göttinger Völkerrechtler Frank Schorkopf erstellen lassen, das Argumente für die juristische Schlacht liefert. Ein weiteres Gutachten von einem Arbeitsrechtler soll folgen. Schorkopf befindet, dass der Gesetzgeber eingreifen könne – wenn dies verhältnismäßig und angemessen sei. Mit dem Auftrag an Arbeitgeber und Gewerkschaften, die Erhöhungsschritte der Mindestlohnkommission zu überlassen, habe die Bundesregierung 2014 aber eine „Systementscheidung“ getroffen. Diese könne sie jetzt nicht einfach rückgängig machen.

Was macht die Mindestlohnkommission? Die Arbeitgeber haben nicht vor, jetzt aus der Kommission auszusteigen. Nun dominiere in den Verbänden die Haltung: „Es ist zwar alles Mist – aber Schadensbegrenzung geht vor“, heißt es. „Diese Stimmen sind derzeit eindeutig in der Mehrheit.“ Arbeitsminister Heil betont im Gesetzentwurf, dass zukünftige Anpassungen des Mindestlohns weiter auf Basis der Kommissionsbeschlüsse erfolgen sollen – „erstmals wieder bis zum 30. Juni 2023 mit Wirkung zum 1. Januar 2024“.

Warum kritisieren auch die Gewerkschaften die jüngsten Regierungsbeschlüsse? Die Gewerkschaften begrüßen die Erhöhung des Mindestlohns, kritisieren aber, dass – auf Druck der FDP – die Hinzuverdienstgrenze bei Minijobs an die Höhe des Mindestlohns gekoppelt und im ersten Schritt von 450 auf 520 Euro angehoben werden soll. Dies käme der Ausweitung prekärer Beschäftigung gleich. „Die Ausweitung der Minijobs ist fatal – ein hoher Preis für zwölf Euro Mindestlohn“, rügt IG-Metall-Vize Christiane Benner. „Minijobs bedeuten Altersarmut, besonders für Frauen.“ Vielmehr muss es darum gehen, die reguläre Erwerbsbeteiligung von Frauen konsequent zu erhöhen. Auch Verdi moniert eine „krasse Fehlentscheidung“.

Wer profitiert von zwölf Euro Mindestlohn?

Begünstigte
 Insgesamt 6,2 Millionen Beschäftigte profitieren von der Mindestlohnerhöhung, denn sie verdienen aktuell unter 12 Euro je Stunde – unter ihnen vor allem Frauen, die 57 Prozent aller Mindestlohnbezieher ausmachen, und Beschäftigte im Osten. Neben drei Millionen geringfügig entlohnten Beschäftigten und 1,8 Millionen Teilzeitbeschäftigten profitieren 1,4 Millionen Vollzeitbeschäftigte von der Anhebung.

Einkommensplus
 Für einen vollzeitbeschäftigten Single ohne Kinder bedeutet die Erhöhung ein Einkommensplus von netto etwa 220 Euro monatlich im Vergleich zur aktuellen Mindestlohnhöhe.