Die Entscheidung für das Medizinkonzept 2030 und für die Fusion der Klinikgesellschaften Calw und Böblingen ist gefallen. Dabei wurden in der Schönbronner Halle ein vorerst letztes Mal Argumente ausgetauscht. Mehrere Anträge zielten sogar darauf ab, eine Abstimmung an diesem Tag zu verhindern.
Der Kreistag hat am Montagabend einen vorläufigen Schlusspunkt hinter monatelange Debatten gesetzt. Mit einer Mehrheit von jeweils ungefähr drei Vierteln der anwesenden Räte beschloss das Gremium sowohl die Medizinkonzeption 2030 als auch die Fusion der Klinikgesellschaften Calw und Böblingen.
Beide Beschlüsse waren aneinander geknüpft; wäre nur einer abgelehnt worden, wäre auch der andere zunächst hinfällig gewesen. Und: Auch der Kreistag in Böblingen, der zeitgleich tagte, hatte dieselben Beschlüsse zu fassen – was dieser ebenfalls tat.
Nun ist also beschlossen, was insbesondere im Raum Calw seit dem Sommer für heftigen Widerstand sorgte. Geburtshilfe und Gynäkologie wandern, so der Plan, bereits im kommenden Jahr nach Nagold und werden dort mit der Herrenberger Geburtshilfe verschmelzen.
Perspektivisch sollen auch Kardiologie (wenn die Krankenkassen nicht mehr dafür bezahlen) und Neurologie von Calw nach Nagold verlegt werden, Orthopädie und Unfallchirurgie wird es künftig nur noch in Calw geben.
Teile der Landkreis-Bevölkerung sind jeweils komplett gegensätzlicher Meinung, ob all das eine gute Idee darstellt. Das spiegelte sich auch im Kreistag wieder.
Denn nicht nur waren rund 200 Bürger gekommen, um den Debatten zuzuhören – und diese immer wieder mit Zwischenrufen, Applaus oder Gelächter zu kommentieren – auch die Räte waren teils alles andere als einer Meinung.
Erster Antrag Gleich zu Beginn kam ein Antrag der AfD-Fraktion auf den Tisch, den diese bereits vor rund zwei Monaten gestellt hatte. Und zwar ein Antrag, die Medizinkonzeption von der Tagesordnung zu streichen.
Fraktionsvorsitzender Günther Schöttle erklärte dazu, man sei nicht generell gegen Medizinkonzept oder Fusion, wolle aber Zeit gewinnen, um keinen Fehler zu machen. Viele Fragen seien nicht geklärt, es gebe keine zuverlässigen Prognosen und es gelte, die Expertise von Medizinern ernst zu nehmen, die den Vorhaben kritisch gegenüberstehen.
Die Vorsitzenden der anderen Fraktionen teilten diese Ansicht nicht. Jürgen Großmann (CDU), Volker Schuler (Freie Wähler), Ursula Utters (SPD), Johannes Schwarz (Grüne) und Albrecht Joos (FDP) erklärten weitgehend einhellig, dass eine Vertagung wenig Sinn mache, weil keine neuen Erkenntnisse zu erwarten seien. Zudem seien die Argumente ausgetauscht und alles lange genug beraten und diskutiert.
Ute Steinheber (fraktionslos) sprang Schöttle indes bei – insbesondere, weil sie sich gegen die Verlegung der Geburtshilfe aussprach.
Die Abstimmung ergab jedoch ein klares Bild: Bei zehn Stimmen für eine Vertagung und einer Enthaltung lehnte das mehr als 40-köpfige Gremium das Ansinnen ab.
Das Problem Landrat Helmut Riegger legte zu Beginn der eigentlichen Debatte nochmals die Situation dar, in der sich der Klinikverbund, das Krankenhauswesen und damit auch die beiden Häuser in Calw und Nagold befinden.
Grundsätzlich seien Kliniken seit geraumer Zeit unzureichend finanziert. Ein Umstand, den Riegger bei anderer Gelegenheit bereits auf eine „verfehlte Krankenhaus-Politik des Bundes“ zurückgeführt hatte. Hinzu komme ein eklatanter Fachkräftemangel, steigende Anforderungen an die Behandlungsqualität und ein wachsender Trend zur Ambulantisierung.
Auf diese Herausforderungen müsse jeder Krankenhausträger reagieren, um nicht unterzugehen und sich stattdessen für die Zukunft aufzustellen. Die Standorte in Calw und Nagold sollen durch die anstehenden Maßnahmen gestärkt werden. Durch die Verlegung der Geburtshilfe nach Nagold solle gesichert werden, dass es überhaupt noch eine im Kreis gebe. Und: Beide Standorte sollen Rund-um-die-Uhr-Kliniken bleiben. „Darauf können Sie sich verlassen“, so der Landrat.
Er warb für die Konzeption, zeigte aber auch Verständnis für jene, die nun am liebsten den Klinikverbund verlassen würden und sich ein Ende der Diskussionen und Maßnahmen herbeiwünschten. Doch „so einfach ist die Welt nun mal nicht“, sagte Riegger.
Der Klinikverbund Alexander Schmidtke, Geschäftsführer des Klinikverbunds Südwest, gab danach einen Einblick in die Zahlen. Werde sich nichts ändern, so prognostizierte er, müsse allein der Kreis Calw bis 2030 mit Verlusten in Höhe von rund 100 Millionen Euro rechnen.
Dies habe zu einem großen Teil mit hohen Fixkosten zu tun, die dadurch entstehen würden, dass viele Leistungen in vergleichsweise kleinen Abteilungen an verschiedenen Standorten zugleich vorgehalten würden. „Dafür brauchen Sie überall Spezialisten“, so Schmidtke.
Und abgesehen von den Kosten: Diese Spezialisten gebe es wegen des Fachkräftemangels künftig gar nicht mehr in ausreichender Zahl. Schon jetzt würden zahlreiche Betten nicht mehr belegt, „weil wir sie nicht betreiben können“.
Werde das Medizinkonzept umgesetzt, könne indes das Defizit des Klinikverbunds bis 2030 auf knapp vier Millionen Euro Minus oder sogar eine schwarze Null gedrückt werden. 2023 droht ein Minus von 66 Millionen Euro.
Das aktuelle Medizinkonzept stamme noch aus dem Jahr 2014. „Und die Welt hat sich enorm weitergedreht“, gab der Geschäftsführer zu bedenken. Darauf gelte es zu reagieren.
Das sagen die Fraktionen Für die CDU erklärte Großmann, das Konzept sei eine „große Chance“ für den Erhalt der Kliniken und um im Wettbewerb mit anderen bestehen zu können. Eines der Probleme sei schließlich nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass viele Menschen sich dort behandeln ließen, wo die Qualität am besten sei – und nicht dort, wo die Klinik am nächsten ist.
Das Konzept sei gut abgestimmt und ausbalanciert. Es reiche nicht mehr, nur an Calw, Nagold oder den Landkreis zu denken, es müsse sogar darüber hinaus gehen.
Schuler (Freie Wähler) blickte zurück, als vor Jahren das zuletzt beschlossene Konzept diskutiert worden war. Auch damals war geplant gewesen, die Kliniken in Calw und Nagold als ein Krankenhaus mit jeweils verschiedenen Leistungen pro Standort auszustatten. Die Geburtshilfe in Calw sei schon damals kritisch klein gewesen und habe in Nagold eine bessere Überlebenschance.
Die neuen Konzeption werde indes ebenfalls Geld kosten. Bei zwei Kliniken sei es schwierig, ein Defizit zu vermeiden.
Zwecks der Verlegung der Neurologie erklärte Schuler, hier wäre es gut, in drei oder vier Jahren nochmals zu entscheiden, ob dies wirklich zielführend sei. Falls nicht, müsse die Abteilung „nicht um jeden Preis nach Nagold“.
Utters (SPD) räumte ein, wie zuvor Schuler, dass es sicher besser gewesen wäre, über die Geburtshilfe zu entscheiden, bevor in Calw Kreißsäle gebaut wurden. Allerdings sei früher nicht absehbar gewesen, dass Herrenbergs Abteilung schließen und verlagert werden würde.
Dass etwas geschehen müsse sei schon rein finanziell klar, da die seit Jahren steigenden Verluste über die Kreisumlage und dadurch von den Städten und Gemeinden bezahlt werde. Diese wiederum könnten dann eigene Projekte nicht mehr umsetzen.
Die Diskussion der vergangenen Monate um die Kliniken sei häufig emotional und nicht immer sachlich geführt worden. Utters bezeichnete es zudem als „nicht zutreffend“, dass es nicht genügend Informationen gegeben habe.
Schwarz (Grüne) forderte eine Hebammenpraxis am Calwer Gesundheitscampus, wenn die Geburtshilfe verlegt werde. Auch er identifizierte den Fachkräftemangel zudem als das drängendste Problem, dass durch Zusammenlegungen angegangen werden müsse.
Er erklärte darüber hinaus, dass es den Calwer zwar schwerfallen möge, wenn in Nagold das größere Krankenhaus stehe, es mache aber schon rein geografisch, angesichts des Einzugsgebietes, Sinn.
Abgesehen davon müsse nun auch auf das geblickt werden, was es im Kreis geben werde: ein neues Krankenhaus samt Campus und eine frisch sanierte Klinik. Perspektivisch bekomme indes Calw mit der Altersmedizin etwas, bei dem kurze Wege besonders wertvoll seien – „weil die Oma mit dem Oberschenkelhalsbruch nicht nur drei Tage liegen wird“.
Thomas Klostermann (AfD) bekräftigte für seine Fraktion nochmals, dass eine Entscheidung auszusetzen sei, weil die Grundlage für eine Entscheidung angesichts ungeklärter Fragen nicht ausreichend sei.
Und Peter Schuon (FDP) meinte, ob das Konzept aufgehe, werde sich anhand der Patienten zeigen, die „mit den Füßen abstimmen“. Er bemängelte aber auch, das zu wenig über Zahlen gesprochen worden sei. „Auch daran werden wir gemessen“, so Schuon mit Blick auf die Bezahlbarkeit der Maßnahmen. Daher forderte er Schmidtke auf, darzulegen, wie viel sich allein mit der Medizinkonzeption sparen lasse. Der Geschäftsführer erwiderte, dass hier mit 35 Millionen Euro zu rechnen sei. Weitere Maßnahmen kämen hinzu.
Kritische Stimmen Otakar Zoufaly (CDU) prangerte in der folgenden Diskussion an, dass der wahre Hintergrund von Konzept und Fusion das derzeit entstehende, „völlig überdimensionierte“ Flugfeldklinikum in Böblingen sei. Hier sei noch gar nicht klar, ob es Maximalversorger werden dürfe und es werde bereits daran gedacht, dies notfalls beim Sozialministerium einzuklagen.
Status hat nichts mit Größe zu tun
Schmidtke erwiderte darauf, dass die Baukosten vom Kreis Böblingen getragen würden. Auch wisse er nichts von einem angedachten Klageverfahren; vonseiten des Klinikverbunds müsse er das strikt zurückweisen. Ansonsten sei es richtig, dass der Status als Maximalversorger erst beantragt werden könne, wenn das Konzept beschlossen sei. Der Status habe aber nichts mit den Dimensionen des Hauses zu tun. Die Bettenzahl sei vom Ministerium geprüft und auch gefördert worden.
Martin Handel (Freie Wähler) stellte sich generell gegen das Medizinkonzept. Dieses komme zur völlig falschen Zeit. Denn einerseits stehe erst noch die Krankenhausreform an, andererseits habe das „alte“ Konzept noch gar keine Gelegenheit gehabt, sich zu beweisen. Stattdessen werden schon wieder alles umgeworfen und gebaut. Das koste nicht nur Investitionen und bedeute Stress für die Mitarbeiter, aus seiner Sicht könne es durch erneute Baumaßnahmen auch zu Einnahmeausfällen kommen. Solche Ausfälle hätten durch den Umbau im laufenden Betrieb in Nagold auch bereits für das Rekord-Defizit gesorgt.
Zweiter Antrag Eberhard Bantel (Freie Wähler) nannte die Konzeption den „dritten Angriff auf die flächendeckende Versorgung“ im Kreis innerhalb der vergangenen Jahre. Er frage sich, wem das am meisten nütze? Auch den Prognosen der Gutachter sei nicht zu trauen; einer habe beispielsweise vor Jahren prognostiziert, die Nagolder Klinik könne Gewinn machen und die Verluste aus Calw auffangen. „Da muss sich ein kühl kalkulierender Unternehmer mit Grausen abwenden“, so Bantel.
Mehrheitlich abgelehnt
Er berief sich zudem auf die Landkreisordnung, laut der die Kreisräte sieben Tage vor einer Sitzung alle Unterlagen haben müssten und beantragte, bei diesem Thema daher nicht zu beschließen. Riegger erwiderte, das sei so nicht zwingend vorgeschrieben und es sei ausreichend informiert worden. Dieser Ansicht folgte auch der Kreistag – und lehnte Bantels Antrag, der elf Stimmen erhielt, mehrheitlich ab.
Beschluss Angesichts der teils recht kritischen Diskussion überraschte das Ergebnis der Abstimmung am Ende vielleicht doch ein wenig. Bei lediglich zwölf Gegenstimmen sprach sich der Kreistag deutlich für die Medizinkonzeption aus.