Kinder mit Lese-Rechtschreibstörung erkennen chinesische Schriftzeichen genauso gut wie Kinder ohne die Störung. Das ergibt eine Studie der Uni Tübingen. Foto: hayo - stock.adobe.com/Hayo

Können Kinder mit einer Lese-Rechtschreibstörung (LRS) Sprachen, die nicht-alphabetische, bildhafte Schriftzeichen nutzen, einfacher erlernen als Sprachen mit alphabetischer Schrift? Mit dieser Frage hat sich ein Forschungsteam der Uni Tübingen befasst.

Vier bis sechs Prozent der deutschen Schulkinder leiden an Legasthenie, einer Störung, die die Fähigkeit zu lesen und zu schreiben beeinträchtigt. Betroffene Kinder können trotz normaler Intelligenz, regelmäßigem Schulbesuch und ausreichenden Deutschkenntnissen nicht richtig lesen und schreiben lernen und geraten im Vergleich zu ihren Klassenkameraden schnell in Rückstand. Als Ursache wird eine fehlerhafte Verarbeitung von sprachlichen Informationen im Gehirn vermutet.

Kinder, die an einer Lese-Rechtschreibstörung leiden, haben Schwierigkeiten, sich den Klang von Buchstaben und damit den Inhalt eines gesehenen Wortes zu erschließen. Sie haben in der Regel keine visuellen Defizite.

Täglich Intensivkurs Chinesisch

Um das Erlernen einer Bilderschrift zu untersuchen, wählte das Forschungsteam die chinesische Sprache. Dafür nahmen 40 Kinder im Alter von neun bis elf Jahren, 18 davon mit LRS und 22 ohne LRS, eine Woche lang täglich an einem Intensivkurs Chinesisch am China-Zentrum der Universität Tübingen teil.

Beim Benennen chinesischer Zeichen auf Deutsch und Chinesisch zeichnete das Studienteam die Augenbewegungen der Kinder auf. „In einer alphabetischen Sprache sind Kinder mit LRS besonders beim Umwandeln von Buchstaben in Laute beeinträchtigt, aus denen sich dann der Wortinhalt ergibt. Das zeigt sich an den Augenbewegungen: Um ein Wort zu entziffern, machen betroffene Kinder mehr Augenbewegungen als Kinder ohne eine LRS“, sagt Studienleiterin Susanne Trauzettel-Klosinski.

Beide Gruppen gleich erfolgreich

In Hinblick auf die Augenbewegungen waren die Kinder mit LRS beim Benennen chinesischer Zeichen auf Deutsch und Chinesisch genauso gut wie die Kinder ohne LRS. „Die erhobenen Daten zu Reaktionszeit bis zur Aussprache des Zeichens sowie Anzahl und Dauer der Haltepositionen auf einem Zeichen waren gleich“, beschreibt Trauzettel-Klosinski. Das zeigt, dass die Kinder mit LRS beim Lernen der Bildsprache erfolgreich dieselbe Strategie anwenden konnten wie die Kinder ohne LRS. „Wir gehen davon aus, dass die Kinder für diese Aufgabe den visuell-räumlichen Verarbeitungsweg benutzten, mit einem direkten Zugang zur Bedeutung.“

Beeinträchtigung der lautlichen Verarbeitung ?

Der Prozentsatz korrekter Antworten bei den Kindern mit LRS war jedoch signifikant geringer beim Benennen der Zeichen auf Deutsch (LRS: 87 Prozent, Kontrollgruppe 95 Prozent), besonders aber beim Benennen der Zeichen auf Chinesisch (LRS: 57 Prozent, Kontrollgruppe 84 Prozent). Ob und inwieweit dies auf eine Beeinträchtigung der lautlichen Verarbeitung bei Kindern mit LRS zurückzuführen ist, darüber könnten weitere Studien mit einer längeren Lernperiode Aufschluss geben.

Chinesischunterricht an Schulen anzubieten, ist aus Sicht des Studienteams auf jeden Fall gewinnbringend: „Kinder mit LRS können ganz neue Sprachlernerfahrungen machen und profitieren auch hinsichtlich ihrer beruflichen Zukunft.“