In Stuttgart wurde 1960 das Kaufhaus Schocken abgerissen – eine fatale Fehlentscheidung. Eine Doku, die jetzt in die Kinos kommt, würdigt den vergessenen jüdischen Kaufhausunternehmer.
Stuttgart - Der Abriss des Kaufhauses Schocken 1960 ist eine der größten architektonischen Fehlentscheidungen Stuttgarts in der Nachkriegszeit. Das von Erich Mendelsohn 1926 bis 1928 erbaute Gebäude mit dem dynamisch gerundeten Glastreppenhaus war ein Meilenstein des Neuen Bauens. Es gehörte zur Schocken-Warenhauskette, die die jüdischen Brüder Simon und Salman Schocken zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Zwickau gegründet hatten. In den 1950er Jahren ging der Bau in den Besitz des rheinischen Kaufhausgiganten Helmut Horten über. Der trieb Abrisspläne voran und spielte damit der Stadt in die Hände, die die Eberhardstraße autogerecht verbreitern wollte. Im Mai 1960 begann der Abbruch.
Überfällige Würdigung
Und heute? Der Name Schocken ist in Stuttgart zwar ein Begriff; nicht zuletzt ein gleichnamiger Nachtclub hielt ihn bis 2017 lebendig. Aber wie viele kennen die Lebensgeschichte des Mannes, der nach dem Unfalltod seines Bruders Simon 1929 die Geschicke des Warenhauskonzerns alleine lenkte? Ob in Stuttgart oder anderswo: Schockens außerordentliches und weitgehend vergessenes Wirken ist aller Erinnerung wert, wie Noemi Schory in ihrem filmischen Porträt „Schocken – Ein deutsches Leben“ aufzeigt.
Er liebte Goethe genauso wie die Geschichten des Rabbi Nachman
Salman Schocken, 1877 im heutigen Polen geboren, 1959 auf einer Reise in der Schweiz gestorben, war nicht nur ein innovativer wie kompromissloser Selfmademan, der mit seiner Warenhausphilosophie nicht weniger im Sinn hatte, als den Konsum zu demokratisieren und auch den sogenannten kleinen Leuten Qualitätsprodukte zu ermöglichen. Der Mann mit dem ausgeprägten Kahlschädel ließ seinen wirtschaftlichen Erfolg ganz der Kultur zugutekommen – Goethe verehrte der fünffache Vater dabei genauso wie den Rabbi Nachman von Bratzlaw.
Eine Privatsammlung mit 60 000 Büchern
Schocken besuchte nur einige Jahre die Volksschule, doch als Autodidakt entwickelte er sich zu einem Intellektuellen, Literaturkenner, Büchersammler, Philanthropen und Mäzen. Seine ungeheure Leidenschaft für Bücher mündete in eine 60 000 Bände, darunter kostbarste Schätze, umfassende Privatsammlung. Dass er die Sammlung bei seiner Emigration nach Palästina vor den Nazis retten konnte, ist ein Glücksfall – sie besteht im heutigen Schocken-Institut in Jerusalem fort.
Vom Kaufhaus- zum Medienunternehmer
Schocken gründete Verlage, erst in Berlin, dann in Tel Aviv und New York. Mit dem Berliner Schocken-Verlag hob er eine jüdische Buchreihe nach dem Vorbild der Insel-Bücherei aus der Taufe; er förderte Schriftsteller wie den späteren jüdischen Nobelpreisträger Samuel Joseph Agnon. Mit der Schocken-Bücherei verfolgte er das Ziel, deutsche Juden in der Zeit des Naziterrors zu unterstützen: „Rückbesinnung auf jüdische Werte und Traditionen ist gleich Selbstbehauptung“, lautete seine Überzeugung. Als die Nationalsozialisten im Zuge der sogenannten Arisierung die 22 Schocken-Kaufhäuser in Deutschland an sich rissen und Schockens Lebenswerk in Deutschland auslöschten, eröffnete der umtriebige Unternehmer in Israel ein neues Kapitel – er kaufte die liberal-kritische Tageszeitung „Haaretz“, heute das Herz eines bedeutenden Medienunternehmens, das von Schockens Enkel Amos geführt wird.
Der Ton ist sachlich, unaufgeregt
In den rund achtzig Filmminuten verwebt Schory ihre unzähligen dokumentarischen Fäden und akribisch recherchierten Fakten zu einem vielschichtigen Porträt. Sie erzählt fast herausfordernd ruhig, lässt historische Fotos, Zitate Schockens und O-Töne von Begleitern und Zeitzeugen lange nachwirken. Dabei wählt die Regisseurin den richtigen Ton für diese überfällige Würdigung: Sie berichtet durchweg sachlich und nüchtern. Formal spielt sie gelungen mit dem von Schocken favorisierten Bauhaus-Grafikdesign in Schwarz-Weiß.
Zwickauer Gymnasiasten über das fatale Vergessen
So schält die Filmemacherin die eindrucksvolle Persönlichkeit Schockens, seine Geisteswelt sowie die Bedeutung seines Einsatzes für die jüdische Kultur heraus. Interviews mit Familienmitgliedern und Schocken-Experten geben dem Porträt noch mehr Tiefe und fügen persönliche Nuancen hinzu. Bemerkenswert ist Schorys Brückenschlag zur Gegenwart, wenn sie etwa eine Gruppe von Gymnasiasten aus Zwickau zur Sprache kommen und dabei auch nach den Gründen für das Vergessen suchen lässt.
Die ganze Tragweite des Verlusts
Der Stuttgarter Schocken-Bau mit seinem eleganten Spiel aus Glas und Beton und dem markant-modernen Schriftzug erhält nur eine kurze Erwähnung in der Dokumentation. Das Anschauen lohnt dennoch – gerade für Stuttgarterinnen und Stuttgarter, weil der Film den durch den Abriss erlittenen Verlust in seiner ganzen Tragweite ermisst. Es ist an der Ecke Hirsch-/Eberhardstraße 1960 eben längst nicht nur ein Gebäude zerstört worden.
„Schocken – Ein deutsches Leben“, Israel/Deutschland 2021. Regie: Noemi Schory. Kino Atelier am Bollwerk, Stuttgart, 7. und 8. November.
Geschichte eines Kaufhauses
Schocken
Das Kaufhaus Schocken in Stuttgart, von 1926 bis 1928 nach einem Entwurf des jüdischen Architekten Erich Mendelsohn erbaut, gehört, neben der Weißenhofsiedlung und dem ihm gegenüberliegenden Tagblatt-Turm zu den bedeutendsten Zeugnissen des Neuen Bauens in Stuttgart. Bei einem Bombenangriff 1944 wurde das Gebäude getroffen und brannte aus, danach wurde es wieder aufgebaut. Als im Jahr 1959 Abrisspläne des neuen Eigentümers Helmut Horten bekannt wurden, setzten sich Studierende der TH Stuttgart für den Erhalt ein, initiierten Protestaktionen und beantragten die Eintragung des Baus in die Liste der Baudenkmale; auch die Witwe Mendelsohns und die internationale Architektenschaft engagierten sich für den Erhalt. Der Denkmalrat entschied sich jedoch gegen die Ausweisung als Denkmal.
Horten
Die Stadtverwaltung genehmigte im November 1959 den Abbruch des Stahlskelett-Baus, der im Mai 1960 begann. 1960/61 entstand an gleicher Stelle der Neubau des Kaufhauses Horten nach Plänen des Architekten Egon Eiermann mit vorgehängter Wabenfassade.