Judith Schneiderman, die Mutter der Sängerin Helene Schneiderman. Foto: privat

1944 wurde die Jüdin Judith Schneiderman aus einem Karpatendorf ins Konzentrationslager Auschwitz deportiert. Sie überlebte, weil sie sang. Ihre Erinnerungen waren Teil eines sehr besonderen Liederabends im Schauspielhaus Stuttgart.

1944 wurde die Jüdin Judith Schneiderman aus einem Karpatendorf ins Konzentrationslager Auschwitz deportiert. Sie überlebte, weil sie sang. Ihre Erinnerungen waren Teil eines sehr besonderen Liederabends im Schauspielhaus Stuttgart.

Stuttgart - Auf den Hintergrund kommt es an. „Unter Bäumen wachsen Gräser“, heißt es in einem Wiegenlied; „bleib mir gesund“ ist sein letzter Satz. „Nichts ist ausschließlich gut oder böse. Beides steckt in uns“, schreibt eine Frau in ihrer Autobiografie. Beides hört man, findet es schön oder richtig. Wenn man aber weiß, dass „Unter Beymer“ ein jiddisches Volkslied ist, dann haben die „bösen Winde“ im Text eine andere Temperatur. Und wenn man weiß, dass die Frau, die in allem Bösen immer auch etwas Gutes findet, eine Überlebende des Holocaust ist, dann spürt man menschliche Größe.

So hat jetzt auch im Schauspielhaus Stuttgart, auf einer nur mit einem Flügel, einem Tisch, sieben Stühlen, zwei Kerzenständern und ein paar Gläsern ausgestatteten Bühne, der Hintergrund den Vordergrund gefärbt und aus einem Liederabend eine tief berührende Veranstaltung gemacht. Zu hören waren Lieder: jiddische, amerikanische, deutsche, Volkslieder. Und zu hören waren zwischendurch außerdem Teile der Erinnerungen von Judith Schneiderman, geborene Rosenberg, die im vergangenen Jahr unter dem Titel „Ich sang um mein Leben“ als Taschenbuch erschienen sind.

Franziska Walser las. „Aus Vernichtung und Tod kann neues Leben wachsen“: Dieser Satz zum Beispiel steht in der Autobiografie, und dann folgt die Geschichte einer Frau, die als eines von acht Kindern einer orthodoxen jüdischen Familie in einem heute zur Ukraine gehörenden Dorf in den Karpaten aufwächst. Als 1944 die deutsche Wehrmacht einmarschiert, ist Judith 15. Sie wird zusammen mit ihrer Familie in Viehwaggons nach Auschwitz deportiert – und überlebt vor allem deshalb, weil sie den Aufsehern deutsche Lieder vorsingt. Zwangsarbeit, Kriegsende und Befreiung, dann zwei Jahre in einem Lager für „Displaced Persons“, wo die junge Frau ihren zukünftigen Mann kennenlernt, schließlich der Neubeginn in den USA: Das Leben der Judith Schneiderman ist eine weite Reise, und eben als solche hat Helene Schneiderman, Tochter der Autorin und seit nun drei Jahrzehnten als Mezzosopranistin Ensemblemitglied der Oper Stuttgart, den Abend auch konzipiert.

Singen mit packender innerer Anteilnahme

Die Musik denkt, fühlt und gestaltet den Text weiter. Sie weitet seine Dimensionen, und manchmal bricht sie ihn auch. Dabei gibt die sanfte Traurigkeit der jiddischen Lieder schon zu Beginn den Ton vor: Der Bariton Motti Kastón ist Judiths Vater Jankel, „der Jankel mit dem längsten Bart“ und Kantor der Gemeinde, und Helene Schneiderman singt in der Rolle ihrer eigenen Großmutter und singt gemeinsam mit ihrem Kollegen das neckische Liedchen vom Reysele im Haysele. Später wirft Kastón sephardisches Liedgut ein, singt den ersten Teil von Franz Schuberts „Ständchen“ auf Jiddisch, so wie Helenes Großvater es tat, setzt mit dem „If I Were A Rich Man“ aus „Anatevka“ den Bildern von Armut und Entbehrung im Buch Träume von einer besseren Welt entgegen und lässt bei den linden Lüften in Schuberts „Frühlingsglaube“ spüren, wie man sich im Mai 1945 gefühlt haben mag. „Nun muss sich alles, alles wenden“, schwärmt Kastón mit Ludwig Uhlands Gedichtzeilen. Da ist er wieder, der Keim des Guten, der auch im Bösen stecken muss.

Helene Schneiderman selbst singt nicht nur mit der ihr eigenen schönen, farbreichen, präzise geführten Stimme, die auch auf einer exzellenten Gesangstechnik fußt, sondern außerdem mit packender innerer Anteilnahme. Für die tiefsten emotionalen Momente des Abends sorgt sie gemeinsam mit dem intensiv mitgestaltenden Pianisten Götz Payer am Flügel. Gustav Mahlers „Irdisches Leben“ ist dabei, und das „Makh tsu di Eygelekh“ („Mach deine Äuglein zu“) zieht sich als Motiv, Gefühl und Idee durch den Abend.

Einer früheren Planung zufolge sollte dieser mit der Stimme der Frau enden, die singend ihr Leben rettete und deren Träume heute die Tochter verwirklicht. Diese Planung hat man verworfen; vielleicht wäre die alte Tonbandeinspielung, die auch auf Helene Schneidermans CD mit jiddischen Liedern zu hören ist, tatsächlich des Guten zu viel gewesen. Stattdessen sorgt jetzt Stuttgarts Opernintendant auf der Bühne des Schauspielhauses für ein zu Herzen gehendes Nachspiel. „Wir sind stolz“, sagt Jossi Wieler zu Helene Schneiderman, „dass du in Stuttgart Weltkarriere machst.“