Um von sexuellem Missbrauch betroffenen Kindern zu helfen ist es wichtig, Anlaufstellen zu bieten. (Symbolbild) Foto: Polizeiliche Kriminalprävention

Straftaten im Bereich "Sexueller Missbrauch von Kindern" um elf Prozent gestiegen. Präventionsarbeit in Hechingen.

Hechingen - Der Strafbereich "Sexueller Missbrauch von Kindern" verzeichnete im vergangenen Jahr eine Zunahme von etwa elf Prozent, dies ist das Ergebnis der Kriminalstatistik zum Thema Gewalt gegen Kinder in Deutschland. Wir haben uns informiert, was Schulen und Kindergärten in Hechingen an Präventionsarbeit leisten. Eine zähe Recherche.

Zumindest das konnte schnell festgestellt werden: Die Stadt Hechingen verfügt über keinen Mitarbeiter, keine Stelle, die sich speziell mit dem Thema Gewaltprävention beschäftigt.

Kindergärten legen Flyer für Anlaufstellen aus

Das bedeutet nicht, dass Kindergärten und Schulen nicht die laut Gesetz notwendigen Vorkehrungen getroffen haben. "Die Erzieherinnen der Kindergärten werden schon im Rahmen ihrer Ausbildung auf das Thema vorbereitet und besuchen regelmäßig Fortbildungen", informiert Thomas Jauch, Pressesprecher der Stadt Hechingen. Und: "In den Kindergärten liegen Flyer des Vereins Feuervogel, einer Informations- und Beratungsstelle gegen sexuelle Gewalt im Zollernalbkreis, aus."

Das mit den ausliegenden Flyern ist löblich, bringt jedoch in der Praxis wahrscheinlich nicht so viel. Der Verein Feuervogel bietet auch Schulungen für Fachkräfte wie Erzieher, Lehrer oder Schulsozialarbeiter an, wird aber von Hechinger Einrichtungen selten angefragt. Janine Heckele, die bei Feuervogel als systemische Beraterin tätig ist, findet das schade. In Balingen und Haigerloch werden die Präventionsprojekte des Vereins stark nachgefragt und kommen gut an. "In den Projekten legen wir Wert darauf, die Kinder nicht zu verängstigen, sondern ihr Selbstbewusstsein zu stärken", sagt Claudia Kanz, Fachberaterin für Psychotraumatologie bei Feuervogel.

Elternabend und Fortbildungen für Fachkräfte

Die Starken Stationen beispielsweise sind ein handlungsorientierter, interaktiver Lernzirkel, der an die Grundschulen ausgeliehen wird. In naher Zukunft wird es auch ein vergleichbares Angebot für Kindertageseinrichtungen geben. Bei einem Elternabend erfahren die Eltern Details zum Projekt und die Fachkräfte besuchen eine Fortbildung bei Feuervogel, bei der sie dazu geschult werden, an den Stationen zu arbeiten. "Die Kinder lernen, was gute und was schlechte Geheimnisse sind, wie man nein sagt und wo sie sich Hilfe holen können", sagt Kanz.

Die meisten Schulen, die einmal teilgenommen haben, würden das Projekt wieder haben wollen, so Kanz. Es gebe aber auch mal Schulleiter, die der Meinung seien, so etwas an ihrer Schule nicht zu brauchen. Dass dies am Geld liegt, ist eher unwahrscheinlich: "Die Kosten für die Projekte werden zur Hälfte von der Schule und zur Hälfte von der Reinhold Beitlich Stiftung in Tübingen getragen", so Kanz. Das Projekt "Tarzan und Jane" etwa, für die Schulklassen acht und neun, umfasst sechs Schulstunden und kostet eine teilnehmende Schule 250 Euro.

Wenn Kinder Sexualität nachspielen, besteht Handlungsbedarf

"Der Schwerpunkt unserer Arbeit liegt eigentlich auf Gesprächen mit Opfern, bei denen der Missbrauch bereits Jahre zurückliegt und die das Erlebte aufarbeiten wollen", sagt Heckele. Doch natürlich berät der Verein auch Eltern und Kinder, die aktuell Hilfe suchen. "Ein klassischer Fall ist, wenn ein Kind im Kindergartenalter Gesten macht und die Eltern unsicher sind, was diese bedeuten könnten." Das Team des Vereins versucht dann gemeinsam mit den Eltern das Verhalten des Kindes einzuordnen: "Wenn Kleinkinder Erwachsenensexualität nachspielen, ist dies ein ernstzunehmender Hinweis auf mögliche Missbrauchserfahrungen." Kanz will Betroffene ermutigen, bei Gesprächsbedarf einfach vorbei zu kommen: "Falsche Anschuldigungen passieren viel seltener als das Gegenteil."

Der Vorteil einer Beratungsstelle wie Feuervogel sei, dass dieser im Gegensatz zur Polizei zunächst nicht dazu verpflichtet ist, etwas zu tun. "Es ist möglich, erstmal über alles zu sprechen, um es zu sortieren und zu strukturieren, auf Wunsch auch anonym", sagt Kant: "Nur wenn wir davon erfahren, dass sich ein Kind in einer akuten Gefährdungslage befindet und der Schutz nicht anderweitig sichergestellt werden kann, informieren wir unter Umständen in Rücksprache mit dem Melder das Jugendamt."

Fachkräfte trauen sich häufig nicht, verdächtigen Beobachtungen nachzugehen

Nicht selten scheitere der Erfolg der Gespräche aber auch an der Bereitschaft von Fachkräften, wie etwa Erziehern, etwas gegen den Missbrauch zu tun – zu groß sei dann die Angst, selbst in Unannehmlichkeiten zu geraten.

Beim Versuch, mit Schulsozialarbeitern aus Hechingen über das Thema ins Gespräch zu kommen, ist zunächst Geduld gefragt. Man wolle die Anfrage mit den Führungskräften besprechen, so die vorläufige Antwort. Es vergehen einige Wochen. Die Leitungsebene verweist wieder auf die Sozialarbeiter vor Ort – und die möchten lieber einen schriftlichen Austausch anstatt ein Gespräch. Einerseits ist es verständlich, bei so einem sensiblen Thema gut vorbereitet sein zu wollen, andererseits auch schade, eben gerade bei diesem Thema erst nach langem Warten einen Ansprechpartner zu finden.

Projekt soll Selbstbewusstsein der Schüler stärken

Immerhin eine Deutschlehrerin des Gymnasiums, Cornelia Köhler, ist zu einem Gespräch bereit. Sie koordiniert federführend ein Projekt an der Schule, das zum Ziel hat, das Selbstbewusstsein der Schüler zu stärken. Der Kurs des Projekts Lions-Quest konnte durch die Pandemie lange nicht stattfinden, soll jedoch so bald wie möglich wieder anlaufen. "Der Kurs beinhaltet auch Module, die vermitteln, wie ich lerne, nein zu sagen", so Köhler.

Das Projekt kommt gut an bei den Schülern – das Gelernte in die Realität zu übertragen, fällt den Heranwachsenden dann aber doch schwer: "Bei den Projekten arbeiten die Schüler gut mit, wenn sie dann aber hinterher in bestimmte Vorfälle verwickelt sind, macht mich das fassungslos", so die Deutschlehrerin. Und sie gibt zu: Das Kapitel, in dem es um Probleme innerhalb der Familien geht, wurde bislang ausgespart. Der Grund: "Wir wollen den Familien nicht auf den Schlips treten."

Doch die Lehrerin scheint einen Draht zu ihren Schülern zu haben, interessiert sich für deren Lebenswelt. Es sei häufig eher der reguläre Unterricht, in dem sie etwas aus deren Privatleben erfahre: "Manche erzählen da bestimmt mehr als ihren Eltern lieb wäre", schmunzelt Köhler. Und fügt hinzu: Sie würde den Jugendlichen schon gerne noch mehr Gelegenheiten bieten, sich selbst mitzuteilen und über persönliche Anliegen zu sprechen. Gerade während der Schulschließung durch Corona sei es schon auch mal vorgekommen, dass man von Schülern gar nichts mehr mitbekommen habe – und nicht wusste, woran das lag.

Info: Opferzahlen

Die Weltgesundheitsorganisation geht für Deutschland von einer Million betroffener Kinder aus – das sind pro Schulklasse ein bis zwei Mädchen oder Jungen, die sexuelle Gewalt erleben mussten. Nur ein kleiner Teil kommt zur Anzeige.

Die Bundeskriminalstatistik besagt, dass im Jahr 2019 rund 4000 Opfer von Misshandlungen bei der Polizei bekannt wurden. Bei sexueller Gewalt gegen Kinder gab es einen Anstieg von 14.606 auf 15.936 Fälle. Es wurde in 12.262 Fällen wegen kinderpornografischer Delikte ermittelt.

Die zahlenmäßige Verdopplung im Vergleich zum Jahr 2016 bedeute jedoch nicht unbedingt einen Zuwachs an Vergehen, sondern auch an Hinweisen.

Quelle: dpa

Leitartikel: Scham der Erwachsenen ist das Problem

Warum hat niemand was unternommen? Es gab doch Hinweise. Wenn wieder einmal ein Missbrauchsfall bekannt geworden ist, wird diese Frage häufig gestellt. Dies ist auch so, wenn über den aktuellen Fall von Münster diskutiert wird.

Um Kinder vor sexueller Gewalt zu schützen, müssen Erwachsene aktiv werden. Neben den Eltern tragen Personen, die beruflich mit Kindern arbeiten, eine besondere Verantwortung: Erzieher, Lehrer und Schulsozialarbeiter sollten nicht nur Augen und Ohren offen halten, sondern auch gesprächsbereit sein.

Wer das Gefühl hat, dass mit einem Kind oder Jugendlichen etwas nicht stimmt, dass in dessen Beziehung zu einem Erwachsenen etwas "irgendwie komisch" sein könnte, sollte seinem Gefühl erstmal trauen, den Eindrücken nachgehen und diese nicht einfach verdrängen.

Dies ist der Punkt, an dem Präventionsarbeit häufig scheitert – aus Angst, selbst in Schwierigkeiten zu geraten oder sich zu irren, ziehen es Erwachsene häufig vor, nichts zu sagen. Diesen Eindruck bestätigen auch zwei Mitarbeiterinnen der Balinger Beratungsstelle Feuervogel. Dieses bequeme Schweigen, diese Zurückhaltung, ist absurd und hat für betroffene Kinder schwerwiegende Folgen.

Ein Gerichtsverfahren wegen Kindesmissbrauch an einem Elfjährigen, das nächste Woche in Hechingen verhandelt wird, zeigt, dass das Thema Prävention auch in einer beschaulichen Kleinstadt wie Hechingen relevant ist. Was wird in der Zollernstadt unternommen, um Kinder und Jugendliche zu schützen?

Heutzutage könnte man meinen, bei Anfragen zu einem Thema wie "Maßnahmen zur Prävention sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen" bei einer Recherche offene Türen einzurennen.

Ein Gespräch mit den Hechinger Schulsozialarbeitern kommt nicht zustande. Nach der ersten Anfrage vergehen einige Wochen, unsere Zeitung hakt nochmal nach. Dann verweist man zuerst auf das Haus Nazareth, dessen stellvertretender Leiter das mediale Interesse an diesem Thema am Telefon ausdrücklich begrüßt und bittet, mit der verantwortlichen Schulsozialarbeiterin vor Ort zu sprechen. Und die meldet sich per EMail zurück: Derzeit seien einige der Kollegen im Urlaub – was dies mit der Anfrage zu tun hat, bleibt unklar. Man wünsche sich, dass die Fragen per E-Mail gestellt werden und bemühe sich, diese zu beantworten. Ob das der Sache gerecht wird?

Und man fragt sich besorgt, welche Hürden Kinder und Jugendliche wohl bewältigen müssen, um sich bei den örtlichen Schulsozialarbeitern oder anderen Personen Hilfe zu holen. Von sexueller Gewalt Betroffene schämen sich häufig, ihnen wird nicht selten bereits in früher Kindheit ein geringes Selbstwertgefühl vermittelt – es ist viel Arbeit, ihr Vertrauen zu gewinnen und überhaupt mit ihnen ins Gespräch zu kommen.

Auch mit Erziehern hätten wir gern über das Thema gesprochen – der Pressesprecher der Stadt gibt nur Auskunft darüber, dass diese im Rahmen der Ausbildung in diesem Bereich geschult werden, mehr nicht. Kann das schon alles sein, um die kleinsten Hechinger vor Übergriffen zu schützen? Wer etwas gegen Missbrauch tun will, muss sich getrauen, mehr über das Thema zu sprechen – zum Schutz der Kinder