Etablierte Keeper wie Andreas Wolff und Andreas Palicka halten bei dieser EM überragend, doch auch Senkrechtstarter wie Constantin Möstl oder Dominik Kuzmanovic beeindrucken die Handballwelt. Woher kommt diese ausgeprägte Dominanz im Tor.
Henning Fritz hat Mitte Januar beim italienischen Handball-Erstligisten SSV Bozen ausgeholfen. Mit 49 Jahren. Bei seinem Comeback zeigte er 16 Paraden, hielt drei Siebenmeter, er konnte das 22:28 im Topspiel gegen Conversano dennoch nicht verhindern. Jetzt konzentriert sich der Europameister von 2004 und Weltmeister von 2007 auf die laufende EM in Deutschland. Und auch er findet die Torhüterleistungen bei diesem Turnier außergewöhnlich gut: „Es fällt schon auf, dass viele Torhüter hier überragend und spektakulär halten. Ihre Rolle war schon immer wichtig, aber sie wird immer entscheidender“, sagt der Welthandballer von 2004 und führt das aktuelle EM-Ranking als Beleg an: Alle vier Halbfinalisten können sich auf überragende Keeper verlassen. Für Spanien dagegen war die EM schon nach der Vorrunde beendet, nicht zuletzt weil sie diesmal zwischen den Pfosten keine Unterstützung hatten.
Spanien ohne Torwartleistung
Im Gegensatz zu Spaniens Gonzalo Perez de Vargaz (33) brachten die ebenfalls etablierten und erfahrenen Keeper wie Deutschlands Andreas Wolff (32) oder Schwedens Andreas Palicka (37) herausragende Leistungen. Auch die Schlussleute der anderen Halbfinalisten gehören zu den in der Szene bekannten Gesichter und stehen wie Wolff und Pallicka zur Wahl für das All-Star-Team der EM: Emil Nielsen (26/Dänemark) und Samir Bellahcene (28/Frankreich).
Doch es gibt auch Senkrechtstarter, die zwar Insidern schon ein Begriff waren, bei der breiten Handball-Bevölkerung bisher aber eher unter dem Radar flogen: Der Österreicher Constantin Möstl und der Kroate Dominik Kuzmanovic. Sie brachten mit ihren spektakulären Paraden am Fließband jeweils das deutsche Team zur Verzweiflung. Der 23-jährige Torwart Möstl zeigte 17 Paraden und kam damit auf eine Quote von 47 Prozent gehaltener Bälle, der 23-jährige Keeper Kuzmanovic auf 13 Paraden (42 Prozent). Das sind absolute Weltklasse-Quoten – und keine Einzelfälle bei diesem Turnier.
Professionelleres Torwarttraining
Woran das liegt? „Mit Sicherheit wird weitaus professioneller mit den Torhütern gearbeitet als früher“, sagt Fritz. Die Torwart-Trainer beschäftigen sich akribisch mit ihren Schützlingen. Das ausführliche, inzwischen leichter zugängliche Daten- und Bewegtbildmaterial kommt der Arbeit entgegen und bietet ganz andere Analysemöglichkeiten. „Auf Knopfdruck kannst du 30 bis 40 Wurfbilder von Schützen bekommen, früher war das ein wahnsinniger Aufwand“, sagt Primoz Prost (40). Der ehemalige slowenische Nationaltorwart arbeitet seit dieser Saison als Torwarttrainer bei Bundesligist Frisch Auf Göppingen.
Auffallend: Alle Top-Schlussleute sind ungemein athletisch, koordinativ extrem gut, ihre Bewegungen sind flüssig und exakt wie die eines Raubtiers. Konditionsstärke, Schnelligkeit und Sprinterqualitäten spielen eine immer größere Rolle, da der Torwart immer öfter im Angriff durch einen zusätzlichen Feldspieler ersetzt wird und er sich zwischen Tor und Bank zeitweise im rasanten Pendelverkehr befindet. „Durch das immer schneller werdende Spiel, die vielen Tempogegenstöße, die schnelle Mitte, bekommen die Torhüter mehr Würfe auf ihr Tor, vor allem von frei vor ihnen auftauchenden Spielern. Sie erhalten dadurch auch mehr Chancen, sich auszuzeichnen“, sagt Prost.
Verändertes Anforderungsprofil
Das veränderte, anspruchsvollere Anforderungsprofil wirkt sich auch auf die Sichtung aus. Früher wurde fast ausschließlich nach großen und kräftigen Keepern gefahndet. Sie bekamen oftmals den Vorzug vor den kleineren Torhütern, aber sportlich talentierteren. Das hat sicher verändert. Mit Constantin Möstl hat ein nur 1,86 Meter großer Keeper den Durchbruch geschafft, der Bundesligist TBV Lemgo Lippe hat sich seine Dienste gesichert. Er bildet vom kommenden Sommer an ein Gespann mit dem Ex-Göppinger Urh Kastelic, einem 2,01-Meter-Riesen mit enormer Spannweite. „Ein ideales Duo, weil sie so unterschiedlich sind“, sagt Prost über seinen slowenischen Landsmann und den österreichischen Emporkömmling.
Er selbst trainiert bei Frisch Auf auch den niederländischen Nationalkeeper Bart Ravensbergen. Der 30-Jährige bringt noch eine ganz besondere Fähigkeit ein. Er ist Spezialist für Würfe aufs leere gegnerische Tor. In der Bundesliga hat er bereits zehn Saisontreffer auf seinem Konto. „Bart ist unglaublich schnell im Kopf und schnell auf den Beinen“, sagt Prost. Diese Handlungsschnelligkeit ist eine weitere Fähigkeit, die die immer stärker werdende Dominanz der Torhüter erklärt. Auch Henning Fritz wird es weiter aufmerksam beobachten. Wenn er nicht gerade mit bald 50 Jahren wieder irgendwo ein Comeback feiert.
Torjäger Ravensbergen
Torwartschulen
Skandinavien
Die Schweden mit der skandinavischen Torwartschule waren in den 1940er und 1950er Jahren die Lehrmeister im Torwartspiel. Sie hatten die ausgefeilteste Technik. Die skandinavischen Torhüter arbeiteten viel mit den Füßen und Beinen, flogen nicht wie die deutschen mit dem ganzen Körper durchs Tor, so wie sie es im damals populären Feldhandball gelernt hatten. Beweglichkeit, Spagat auf dem Boden, Körperbeherrschung charakterisieren dieses Torwartspiel.
Früheres Jugoslawien
Entwickelt hat die jugoslawische Torwartschule Abas Arslanagic, ein Bosnier, der 1972 in München im Team von Vlado Stenzel die erste olympische Goldmedaille im Hallenhandball gewann. Er verstand das Torwartspiel im Handball als Geometrie und beschäftigte sich mit Winkeln und Räumlichkeit. Die Philosophie lautet, die Position zwischen den Pfosten zu halten, viel aus dem Oberkörper zu arbeiten, die Beweglichkeit in den Beinen spielt eine geringere Rolle als bei den Skandinaviern. Durch die im ehemaligen Jugoslawien gespielte offensive 3:2:1-Formation kam es häufiger zu Duellen Mann gegen Mann, weshalb die Torhüter vom Balkan besonders aggressiv auf die Werfer vom Kreis und von außen zustürzen. Probleme haben sie eher bei Würfen aus dem Rückraum. (jüf)