Der pakistanische Flüchtling Muhamad (links) wird in der ärztlichen Versorgungsstelle in der Hanns-Martin-Schleyerhalle in Stuttgart vom Arzt Simon Reichenauer (Mitte) untersucht, während ein weiterer pakistanischer Flüchtling dolmetscht. Foto: dpa

Deutschland hilft den Flüchtlingen. Im Großen und im Kleinen. Das wird nur leider wenig beachtet, kommentiert Jan Sellner – weil sich die Aufmerksamkeit naturgemäß auf das richtet, was nicht funktioniert.

Stuttgart - Eine weitere Woche der Ernüchterung beginnt. Ernüchterung, weil das Thema Flüchtlinge den Alltag immer stärker durcheinanderbringt. Auch angesichts der beschämenden menschenfeindlichen Attacken im sächsischen Heidenau erhebt sich die Frage: Sind wir der Aufgabe gewachsen? Die Zweifel, so scheint es, mehren sich.

Das findet seinen Ausdruck im politischen Streit wie im gesellschaftlichen Diskurs. Unter der Überschrift „Moral alleine hilft nicht“ meldete sich der Autor Harald Martenstein mit Kritik an Journalisten-Kollegen zu Wort: Nichts sei einfacher, als einen moraltriefenden Text zu schreiben, der so tut, als sei alles überhaupt kein Problem. Ein Irrtum. Noch einfacher ist es, vermeintlich schnelle Lösungen anzubieten. Wer glaubt, man brauche nur den Kreis der sicheren Herkunftsländer zu erweitern, schon sei das Problem zur Hälfte gelöst, verkennt die Dynamik der Fluchtbewegungen.

Mehr als 60 Millionen auf der Flucht

Die Wirklichkeit ist komplex. Allein aufgrund von Gewalt und Vertreibung sind heute weltweit mehr als 60 Millionen Menschen auf der Flucht – so viele wie nie zuvor seit den Aufzeichnungen der Vereinten Nationen. Darin liegt die eigentliche Herausforderung. UN-Flüchtlingskommissar Antonio Guterres hat in der vergangenen Woche das Notwendige dazu gesagt: Zum einen, dass es nicht tragbar sei, dass zwei EU-Länder – Deutschland und Schweden – die Mehrheit der Flüchtlinge aufnehmen. Zum anderen stellte er fest: „Wir können Menschen, die flüchten, um ihr Leben zu retten, nicht abschrecken. Sie werden kommen, und wahrscheinlich werden es noch mehr werden.“ Solange die internationale Gemeinschaft keine Lösung für die Krisen finde, müsse man sich den dramatischen humanitären Folgen stellen. „Wir haben die moralische Pflicht, sie willkommen zu heißen, und die gesetzliche Verpflichtung, sie zu schützen“, hebt Guterres hervor. Diese Klarheit wünscht man sich auch von manchen Politikern.

Das Erfreuliche ist: Viele Bürger leben diese Klarheit. Die Hilfsbereitschaft, die den Flüchtlingen entgegengebracht wird, zählt zu den eindrucksvollsten Erfahrungen überhaupt. Deutschland hilft. Im Großen und im Kleinen. Das wird nur leider wenig beachtet, weil sich die Aufmerksamkeit naturgemäß auf das richtet, was nicht funktioniert. Es wäre naiv, Probleme kleinreden zu wollen – sie sind sehr konkret. Das wird bei der Suche nach Standorten für Flüchtlingsunterkünfte deutlich. Umgekehrt ist es ignorant, das Engagement der Bürger zu übersehen.

Kultur des Helfens

Davon gibt es jede Menge: Trotz mancher Enttäuschungen und schriller Töne breitet sich eine Kultur des Helfens aus: Stuttgart, wo Integration seit Jahren vorbildlich von unten praktiziert wird, zählt aktuell 1500 Ehrenamtliche in 28 Freundeskreisen. Tendenz steigend. Ihnen allen gebührt Respekt: Schülern, die Flüchtlingsprojekte betreuen, Nachbarn, die Spielmöglichkeiten für Flüchtlingskinder schaffen, Berufstätigen, die Geld und Freizeit einbringen. Die Stadt hat eine Ehrenamtskoordinatorin eingesetzt, um die Übersicht zu behalten – so zahlreich sind die privaten Angebote.

Anderswo ein ähnliches Bild: „In Mainz ist es fast schon schwer, einen Flüchtling zu betreuen, so viele Leute gibt es, die sich kümmern wollen“, schreibt eine junge Frau. So viele Leute . . . von der Studentin bis zum Unternehmer. Ihr Engagement straft diejenigen Lügen, die den eigenen Beitrag darin sehen, das „Gutmenschentum“ anzuprangern. Sie sollten sich besser des Schlechtmenschentums annehmen. So groß die Herausforderung durch die Flüchtlinge ist, das Gemeinwesen kann daran wachsen. Deshalb keimt in diesen Wochen der Ernüchterung auch ein Stück Hoffnung.