Welcher Film bekommt bei den Filmfestspielen in Frankreich die Goldene Palme? Ein großes Glanzstück war jedenfalls nicht dabei.
Muss man die 77. Auflage der Internationalen Filmfestspiele von Cannes, die an diesem Samstag mit der Preisverleihung zu Ende geht, als eine in filmischer Hinsicht schwache oder zumindest durchschnittliche bezeichnen? Sicher ist in jedem Fall, dass man die ganz großen Meisterwerke, auf die sich alle zu einigen schienen und über die auch Tage später noch jeder sprach, in diesem Jahr eher vergeblich suchte. Und während sich im Vorjahr am Ende mit „Anatomie eines Falls“ und „The Zone of Interest“ schnell echte Favoriten herauskristallisierten, ist dieses Jahr das große Raten angesagt, wer am Ende die Goldene Palme gewinnen könnte.
Weit vorne lagen bei der anwesenden Presse zuletzt Sean Bakers humorvolle Stripperinnen-Geschichte „Anora“ (gelacht wird schließlich im Müdigkeitstief zur Festivalmitte sonst eher selten) sowie „Grand Tour“ des Portugiesen Miguel Gomes, eine kunstvoll-langsame Reisegeschichte in Schwarz-Weiß. Doch auf den letzten Metern brachten sich noch ein paar weitere Anwärter in Position.
Besonders viel Hoffnung auf einen Preis darf sich sicherlich „The Seed of the Sacred Fig Tree“ machen, der neue Film des Iraners Mohammad Rassulof. Der Regisseur, der in Cannes 2017 bereits in der Reihe Un Certain Regard gewann und 2020 den Goldenen Bären der Berlinale erhielt, erzählt dieses Mal eine Geschichte aus der unmittelbaren Gegenwart seiner Heimat. Familienvater Iman ist zum Ermittlungsrichter am Revolutionsgericht befördert worden. Eine größere Wohnung winkt, außerdem bekommt er zur eigenen Sicherheit eine eigene Pistole. Doch gleichzeitig behagt es ihm keineswegs, dass er plötzlich Todesurteile unterzeichnen muss, ohne dass er überhaupt ermitteln durfte.
Als im Iran nach dem Tod von Jina Mahsa Amini die vehementen Proteste gegen das Regime beginnen, zeigt sich die innerfamiliäre Kluft: während der Vater tief im Inneren des Systems steckt und seine Frau eigentlich treu an seiner Seite steht, sympathisieren seine beiden Teenager-Töchter mit dem Freiheitskampf gegen die Theokratie. Als dann die Waffe verschwindet, spitzt sich die Situation immer weiter zu.
Bedrückende Geschichte
Rassoulof inszeniert seine Geschichte gewohnt langsam und enorm bedrückend, mit einer ganz eigenen Spannung, einem fantastischen Ensemble und vor allem mit zahlreichen auf Social Media verbreiteten Aufnahmen der realen Proteste und Verhaftungen 2022. Das allein ist so eindrucksvoll, dass die Palme verdient wäre. Aber dass der regimekritische Regisseur selbst gerade erst mit seiner Flucht den Fängen der iranischen Justiz entkommen ist und es nun via Deutschland nach Cannes geschafft hat, verleiht „The Seed of the Sacred Fig Tree“ nun noch zusätzliche Relevanz.
Als wundervoll gelungen erwies sich auch „All We Imagine As Light“ von der häufig auch dokumentarisch arbeitenden indischen Regisseurin Payal Kapadia. Aus der Geschichte über zwei miteinander bekannte Krankenschwestern in Mumbai macht sie einen gleichermaßen träumerischen wie wahrhaftigen Film über das Dasein in der „Stadt der Illusionen“ (wie die Metropole hier beschrieben wird) im Widerspruch zu den ländlichen Wurzeln vieler Bewohner und Bewohnerinnen, aber nicht zuletzt über Alltagsrealitäten für gerade alleinstehende Frauen im modernen Indien.
Lanthimos hat auch Chancen
Ganz ohne Yorgos Lanthimos sollte man die Rechnung in Cannes allerdings auch nicht machen. Vor nicht einmal einem Jahr erhielt sein „Poor Things“ den Goldenen Löwen in Venedig, nun ist schon der Nachfolger „Kinds of Kindness“ am Start. So schräg, unkonventionell und psychologisch düster wie hier war der Grieche lange nicht mehr: ein Triptychon verstörender, einfallsreicher und bitterbös-komischer Geschichten darüber, dass der Mensch eben gerade nicht gütig (also „kind“), sondern eigennützig und eigentlich unrettbar verloren ist. Dass „Kinds of Kindness“ letztlich schwächer ist als Lanthimos‘ bisherige Filme liegt vor allem daran, dass nicht alle drei Kapitel gleich stark und zum Teil – Dauerbeschwerde bei diesem Festival – schlicht zu lang sind. An der visuellen Umsetzung oder dem Ensemble (Emma Stone, Jesse Plemons, Willem Dafoe und Co. kommen in jeder Story vor) liegt es wahrlich nicht.
Nicht auszuschließen, dass vor allem Plemons sogar ein heißer Anwärter auf den Darstellerpreis ist, ähnlich wie der Brite Ben Whishaw für „Limonov: The Ballad“ oder Sebastian Stan als Donald Trump in „The Apprentice“, wobei der Amerikaner gerade erst auf der Berlinale ausgezeichnet wurde. Die komplexen Frauenfiguren und ihre überzeugenden Darstellerinnen – von Demi Moore in „The Substance“ und Zoe Saldana in „Emilia Pérez“ über Chiara Mastroianni in „Marcello Mio“ und Newcomerin Mhalou Kebizi in „Diamant brut“ bis hin zu den Schauspielerinnen in „The Girl With the Needle“ oder eben „The Seed of the Sacred Fig Tree“ und „All We Imagine As Light“ – hinterließen in Cannes dieses Jahr allerdings deutlich bleibenderen Eindruck als die Männer.